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Kultur: Frei heraus

Bernhard Schulz über Tagungen und Meinungen

Loccum ist ein kleiner Ort in Niedersachsen, ideal, um unabgelenkt tagen zu können. Die Evangelische Akademie neben dem uralten Zisterzienserkloster genießt seit Jahrzehnten einen guten Ruf. Ihr alljährliches „Kulturpolitische Kolloquium“ findet an diesem Wochenende zum 50. Mal statt. 50 Mal Kulturpolitik! Man ahnt, dass nicht jede dieser Tagungen von weit reichender Bedeutung gewesen sein kann. Es wurden dort allerdings auch manche Sätze gesagt, die im politischen Alltag nachhallten.

Die Evangelischen Akademien in der alten Bundesrepublik waren immer wieder einmal Brennpunkte vorausweisender Diskussionen. Das ist heute, wo jedes Thema in Blitzeseile auf dem Markt der veröffentlichten Meinungen zerredet wird, nicht mehr gleichermaßen der Fall. Das diesjährige Loccumer Thema, „Was ist europäische Identität im Europa der Kulturen?“, darf zuallererst als Hommage zum 70. Geburtstag des langjährigen Tagungsleiters Olaf Schwencke verstanden werden. Als Abgeordneter in Bundestag und Europaparlament erfuhr er zur Genüge, was Phrasen sind und wo eine bedeutungsstarke Rede beginnt. Genau das bezeichnet den Balanceakt, den politische Tagungen zu absolvieren haben.

Zumal das Europa-Thema findet in der Regel nur mühsam aus dem Dunstkreis ebenso wohlmeinender wie folgenloser Statements heraus. Doch inzwischen hat uns die politische Wirklichkeit in einer Weise eingeholt, die das Innerste Europas berührt: in der Frage der Meinungs- und Pressefreiheit, die sich ausgerechnet an Karikaturen entzündet hat. Darüber als einen Kernbestandteil der europäischen Identität sich zu einigen, dürfte selbstverständlich sein. So selbstverständlich wie auch die Ratlosigkeit, wie das hohe Gut in einer Welt staatlich forcierter Denkverbote zu bewahren sei. Die Freiheit der Rede ist schließlich ein Individualrecht und als solches zuallererst ein Abwehrrecht gegen staatliche Bevormundung. Doch die digitale Globalisierung der Welt verdrängt den Raum, den Nachdenken zur Voraussetzung hat. Das spüren alle Akademien.

Jedes Wort findet ein Widerwort, kaum dass es ausgesprochen ist – oder verstanden wäre. „Europa eine Seele geben“, hieß vor einer Weile eine etwas gravitätische Berliner Konferenz. Was diese Seele – ein schöneres Wort für „Identität“ – ausmacht, wird durch die jüngsten Ereignisse zur Diskussion, von ihren fundamentalistischen Gegnern gar zur Disposition gestellt. Die Freiheit der Rede des Einzelnen, weit vor vorbereiteten Manuskripten, ist das eigentliche, das ur-europäische Thema der Loccumer Tagung.

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