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Bretter, die ihr Geld bedeuten. Yui Kawaguchi bei den Proben zu „Force and Freedom“ von Nico and the the Navigators.

© D. Hartwig

Freie Berliner Szene: Tanzen in Zeiten des Abstandgebots

Abgesagte Vorstellungen und ungewisse Zukunft: Die freie Berliner Szene ist besonders hart von der Corona-Krise betroffen.

Von Sandra Luzina

Im März probte die Berliner Tänzerin und Choreografin Yui Kawaguchi noch in Frankreich ihr neues Stück, das Elemente des japanischen No-Theaters mit zeitgenössischem Tanz verbindet. 

Die Uraufführung von „Mugen“ sollte am 1. April in den Berliner Sophiensaelen stattfinden. Kawaguchi war gerade dabei, das Licht einzurichten, als der Intendant des Theaters von Montbéliard sie aufforderte, schleunigst abzureisen, denn am nächsten Tag würde die Grenze nach Deutschland geschlossen.

Kawaguchi und der Lichtdesigner Fabian Bleisch kauften schnell noch Proviant ein, fuhren dann mit dem Auto nach Berlin und begaben sich sofort in häusliche Quarantäne. Kawaguchi trainierte zwar in ihrem Wohnzimmer, doch am Ende der 14 Tage, so erzählt sie im Telefoninterview, fühlte sie sich, als sei sie in Watte eingepackt und ihr gehe langsam die Luft zum Atmen aus. 

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An dem Tag, als die Quarantäne vorbei war, schneite es zehn Minuten lang. Kawaguchi rannte sofort aufs Dach ihres Wohnhauses und tanzte mit den Schneeflocken. Das Video postete sie auf Facebook. „Ich habe mich ganz mit dem Moment verbunden gefühlt“, beschreibt sie ihr Glücksgefühl.

Sie hofft, dass sie „Mugen“ in diesem Jahr noch zeigen kann. Es ist nicht das einzige ihrer Projekte, das wegen der Corona-Pandemie vorerst abgesagt werden musste. Eine enge Zusammenarbeit verbindet Kawaguchi, die seit 2005 in Berlin lebt, mit der Gruppe Nico and the Navigators

Deren Beethoven-Projekt „Force and Freedom“ sollte am 1. Mai bei den Schwetzinger SWR Festspielen Premiere feiern. Zwei Wochen hatte die Gruppe aus Sängern, Tänzern und Schauspielern schon gemeinsam geprobt. Nun bleiben alle zu Hause – und führen den kreativen Prozess dennoch fort. 

„Ich bin dankbar, hier zu sein“

„Wir arbeiten individuell weiter, sammeln Material und schicken Nico kleine Videos“, erzählt Kawaguchi. Die Navigators sind froh, dass sie weiterarbeiten können. Vertraglich wurden ihnen 80 Prozent des regulären Probenhonorars garantiert.

Doch die Gagen aus Gastspielauftritten brechen weg. Um über die Runden zu kommen, hat Kawaguchi deshalb Soforthilfe bei der Investitionsbank Berlin beantragt. Schon nach wenigen Tagen waren die 5000 Euro auf ihrem Konto. „Ich bin dankbar, hier zu sein“, sagt Kawaguchi. In Japan sei es für Künstler sehr viel schwieriger, finanziell zu überleben.

Auch andere Berliner Tanzschaffende haben von der Soforthilfe profitiert. Dennoch trifft die Coronakrise die freischaffenden Tänzer und Choreografen besonders hart. Sie arbeiteten sowieso schon unter prekären Umständen, berichten Moritz Majce und Kasia Wolinska vom Vorstand des Vereins „Zeitgenössischer Tanz Berlin“. Die beiden bekommen die Ängste und Sorgen ihrer Kollegen ganz unmittelbar mit.

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Mit dem Geld aus einer Schenkung haben sie das Peer-to-peer-Projekt gestartet, um in Not geratene Tanzschaffende zu unterstützen. Wer einem Kollegen Hilfe anbietet, etwa bei der Beantragung von Fördermitteln, bekommt dafür 50 Euro. Es ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein wichtiges Signal, das die Szene zusammenhält.

Eine große Verunsicherung erlebt auch Michael Freundt, der Geschäftsführer vom „Dachverband Tanz Deutschland“. Gemeinsam mit der Tanzszene Baden-Württemberg und den Tanzbüros in Berlin, NRW und München hat der Dachverband eine bundesweite Umfrage zu den Einnahmeausfällen im Tanzbereich durchgeführt. 

Über 600 Tabellen wurden ausgewertet: „Wir rechnen allein im Tanzbereich mit über 130 Millionen Euro an Einnahmeverlusten für Selbständige, Ensembles, Schulen und Einrichtungen.“

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Die freie Tanzszene geht kreativ mit der Krise um. Und es gibt auch viel Solidarität innerhalb der Szene. Aber die freischaffenden Künstler sind auch auf die Solidarität der Institutionen angewiesen. Vorbildlich agieren in der Krise die Intendantinnen Shermin Langhoff vom Gorki-Theater und Annemie Vanackere vom HAU.

Die Leitung des Gorki Theaters hat entschieden, für die im Zeitraum vom 11. März bis 19. April abgesagten Veranstaltungen die vereinbarten Honorare an Gäste auszuzahlen. Ob nach dem 19. April Ausfallhonorare für freie Künstler und Künstlerinnen gezahlt werden können, werde geprüft. 

Das Theater sei bemüht, alle geplanten Projekte auch umzusetzen. Es sei aber dringend notwendig, dass nach einer politischen Lösung gesucht werde – für die Theater ebenso wie für Freiberufler.

Hintergrund zum Coronavirus:

„Wir tun alles im Rahmen des Zuwendungsrechts Mögliche, damit die Gelder, die in unserem Budget für Honorare der Künstlerinnen vorgesehen waren, auch bei ihnen ankommen“, erklärt das HAU. Die Senatsverwaltung habe dankenswerterweise ein paar Erleichterungen im Zuwendungsrecht erlassen. 

Das HAU hat sich für geplante Projekte schnell alternative Formate überlegt wie Onlineaufführungen und Streamings. Die Resonanz sei gut. Dennoch: Die Situation der freischaffenden Künstler bleibt fragil.

„Es brennt an allen Ecken und Enden“, bestätigt auch die Grünen-Politikerin Sabine Bangert, die Vorsitzende des Kulturausschusses. Nicht nur die freien Tanzgruppen, auch die freien Musikensembles müssten jetzt unterstützt werden. 

Einen Nachtragshaushalt für die Kultur und Kreativwirtschaft hat der Senat schon beschlossen, er wird nach Ostern vom Abgeordnetenhaus beraten. „Da müssen wir dann scharfstellen, welche Bereiche davon profitieren sollen“, sagt Bangert.

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Wichtig sei jetzt, dass die bereits bewilligten Mittel für Projekte schnell fließen. Auch Umwidmungen von Mitteln seien denkbar. Sabine Bangert drängt auch darauf, dass die Maßnahmen, die beim Runden Tisch Tanz beschlossen wurden, zügig umgesetzt werden. 

Und sie fordert, dass die Theater, die Projekte mit freien Gruppen geplant haben, diese nicht hängen lassen. Sie erwarte jetzt Flexibilität und Großzügigkeit seitens der Institutionen und der Politik, erklärt Bangert. „Es bringt niemandem etwas, wenn wir am Ende des Jahres auf Mitteln hocken und die Szene kaputt ist.“

Yui Kawaguchi ist sich bewusst, dass der momentane Ausnahmezustand noch länger andauern könnte. Denn die Theater werden wahrscheinlich als Letzte wieder öffnen. Ihr fehle nicht nur das gemeinsame kreative Arbeiten, erzählt sie. „Ich vermisse auch das Theater als Ort der Zusammenkunft.“

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