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Kultur: Freie Lust und frommer Tod

Die Welt nach Wojtyla: Den Kampf um den Körper hat die Kirche verloren – den um die Seele nicht

In diesem welthistorischen Augenblick, in dem der aufgebahrte Johannes Paul II. zwar tot, aber noch ganz gegenwärtig ist, erscheinen alle Spekulationen über einen Nachfolger noch unwirklich. Trotzdem könnte die Zeit über diesen großen Papst schneller hinweg eilen, als es sich die Hinterbliebenen im Bann der Trauer und des von den Massen und den Medien wechselseitig zum globalen Event gesteigerten Zeremoniells jetzt vorzustellen mögen.

Karol Wojtylas so weit über die Grenzen des Katholizismus hinausstrahlendes Charisma gründete ja gerade in seiner Präsenz: als erster Weltreisender auf dem Stuhle Petri und als Mann und Mensch, den das Amt und aller Ornat nicht zur leiblosen Monstranz machte. Daher auch sein Wunsch, sich bis zuletzt noch leibhaftig der Mitwelt zu zeigen.

Wenn dieser Mensch aber einmal begraben ist, erlischt die Wirkung, aus Charisma wird Chronik, aus dem Gesicht Geschichte – vor allem die Geschichte, wie dieser Papst das Mitmenschliche und sozial Gewissenhafte eines Johannes XXXIII. mit dem autokratischen Kalkül und Konservativismus eines Pius XII. verbunden hat. Es war ein Spagat, den fortzusetzen selbst ein ähnlich starker Charakter als Nachfolger Schwierigkeiten hätte.

Der polnische Papst, obwohl selbst aus einem moralischen Guss, hatte für die Gesellschaft von heute das Janusgesicht des Fortschrittlichen und des Reaktionärs. Hierbei war er ein Sieger und ein Verlierer, wie die Kirche, die er repräsentierte.Das zeigt auch das Ende, an dem Johannes Paul II. im Kampf um die Seelen wohl triumphiert. Selbst unter Nichtfundamentalisten wächst ja nach dem Scheitern des Kommunismus und angesichts der schneller als jede Glücksverheißung spürbaren Kälte und Wurzellosigkeit des globalen Kapitalismus die Sehnsucht nach anderen, transzendenten Heilsversprechen. In dieser Situation faszinieren sogar der tote Papst und seine Kirche durch ihre zu Kunst, Architektur und Ritual gewordene Kultur. Der von Michelangelo entworfene Petersplatz gleicht mit den Hunderttausenden längst der Stätte eines Popfestivals. Und dort sagte gestern ein Mädchen aus Deutschland, sie sei am meisten überrascht und ergriffen, dass es unter so vielen Menschen „diese Stille“ geben könne.

Da ahnt man, täglich berieselt oder zugedröhnt, plötzlich die Kraft einer Gegenkultur. Einer Gegenwelt. Nicht nur auf dem Petersplatz ehren den Toten, wie einst im Leben, besonders die Jungen. Aber die wenigsten von ihnen leben (und lieben) wohl nach den von Johannes Paul II. so vehement verfochtenen Regeln der kirchlichen Sexualmoral. Nicht nur in Italien und Polen, der katholischen Doppelheimat des verstorbenen Papstes, sind die Geburtenraten in den letzten Jahren drastisch gesunken. Außerhalb der islamischen Regionen gehört zur politischen und privaten Freiheit auch die freie Liebe, mit dem unbegrenzten Recht zur Verhütung und dem (begrenzten) Recht auf Abtreibung. Den Zölibat hiergegen als katholisches Kuriosum zu verteidigen und die millionenfache Abtreibung werdender Kinder (ohne skandalöse Holocaust-Vergleiche) als moralisch gravierenderes Problem zu behandeln, das hätten auch säkulare Geister diesem Papst noch nachgesehen.

Doch Sexualität nur in ehelicher, heterosexueller Verbindung zum prinzipiellen Zweck der Fortpflanzung anzuerkennen, damit rückte der Papst die katholische Morallehre in die Nähe des abstrus Irrealen. Umso mehr, als er in seinem Gedichtband „Römisches Triptychon“ mit Blick auf Michelangelos Sixtinische Kapelle, in der auch sein Nachfolger gewählt werden wird, als Papst und Poet durchaus von der paradiesischen Nacktheit spricht: „Die Scham kommt erst mit der Sünde, / noch aber herrscht höchste Glückseligkeit / (... sie) leben darin. Sie sind keusch.“

Adam und Eva, bei den Worten des päpstlichen Poeten genommen, waren in jener „Glückseligkeit“ freilich auch schamlos. Wojtyla feiert dagegen die schon über dem Portal seines Gymnasiums in Wadowice lateinisch beschworene Keuschheit – und nennt statt der irdisch vergänglichen einzig die „ewige Liebe“. Kann man (ihm) das glauben?

Sicher drückte sich in diesem gebildeten, poetisch und nicht nur theologisch empfindsamen Starrsinn etwas jenseits des Religiösen aus: eine kulturell-zivilisatorische Abwehr. Wojtyla alias Johannes Paul kannte natürlich die quasi offizielle Doppelmoral des mit Beichte, Ablass und Vergebung handelnden Katholizismus. Und gerade in Ländern wie Polen, Irland oder Spanien, den lange Zeit militantesten katholischen Orthodoxien, blüht als Kehrseite von jeher (auch künstlerisch) die Blasphemie und das Obszöne, die Lust am Pornographischen wie an der Ausschweifung.

Der Papst hat sein Gebot der vor- und außerehelichen Keuschheit denn wohl auch als Provokation gesetzt. Weil er wusste, dass die Freiheit, die er politisch so wirkungsmächtig einforderte, als sexuelle Libertinage im schrankenlosen Kapitalismus nicht nur friedlich befriedigend wirkt, sondern auch gewaltig verrohend: als Geschäft, als Ausbeutung von Frauen, Kindern, Wehrlosen.

Insofern war der Papst gewiss ein Frauenfreund. Trotzdem sah er in der Frau zugleich den Sündenfall, die Schlange – für das innere Gefüge einer Männer-Kirche. Diese kultische, kulturelle Ausgrenzung der halben Menschheit werden seine Nachfolger nun so wenig durchhalten können wie die bisherige Sexuallehre. Frauen des 21. Jahrhunderts dürften wohl zunächst im Islam den mittelalterlichen Männer-Bund und dessen Doppelmoral sprengen. Dort ist der politische Druck und der Dissens mit der Moderne am stärksten. Nicht unmöglich aber, dass es am Ende dieses Jahrhunderts in Rom die so oft beschworene Päpstin Johanna gibt.

Johannes Pauls Vermächtnis ist, dass eine zeitgemäße Kirche nicht zur bequemen Zeitgeist-Serviceagentur gerät. Allerdings könnten Zeit und Geist der Kirche auch in die offenen Arme spielen. Denn mit der Lust am freien Leben und Lieben wächst naturgemäß die Angst vor dem Tod. Alle Lust will Ewigkeit. Doch wenn die Medizin das ewige Leben nicht schafft und die traditionellen irdischen Bindungen immer lockerer werden, braucht es am Ende jenen anderen Trost und Halt. Das ist der wahre Grund für dieWiederkehr der Religion in der weltlichen Welt.

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