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Kultur: Freiheit und Zitronenkuchen

Als Ibiza noch keine Partyinsel war, zog es Aussteiger aus aller Welt dorthin. Heute sind sie alt, aber erstaunlich locker. Ein Besuch bei den letzten Hippies

Hundert Dollar hatte Dieter Loerzer von der österreichischen Prinzessin bekommen. Einen Monat lang war er jeden Tag für sie beten gegangen, beim Heiligen Rupert an der Münchener Karlstraße, auf dass ihr Scheidungsprozess gut für sie ausgehen möge. Na ja, geklappt hat es nicht, aber das Geld bekam er trotzdem. Am nächsten Tag fuhren sie los, es war der 27. März, in der klapprigen Karre des Amerikaners, der holländische Geiger kam auch mit, ein Mädchen und der Goldschmied, der nur in Versen sprach. Sie brauchten nicht einmal eine Woche. Am 4. April um acht Uhr morgens waren sie auf Ibiza.

Ibiza. Noch wusste kaum jemand in Europa, wo das sein sollte. Es war das Jahr 1954, und die Insel stand erst vor ihrer Erweckung. Sie war bitterarm. In den Salinen schufteten die Männer für 25 Pfennige die Stunde. Die Hauptstraßen waren Staubwege. Die Bauernhöfe konnten immer nur den ältesten Sohn ernähren, die anderen wanderten aus, was den Müttern das Herz brach. Und die Fincas, die heute Millionen wert sind, mächtige Kuben mit meterdicken, nach innen geneigten Wänden, blieben zwar im Sommer kühl, aber im Frühling, Herbst und Winter waren sie eiskalt und feucht und dunkel.

Aber schön war sie, die Insel. Albert Camus hatte sie gerade entdeckt, ihre weißen Kirchen, die kreidigen Mauern, die struppigen Olivenbäume. Walter Benjamin war schon dort gewesen, auf der Flucht vor den Nazis. Erwin Broner, der Bauhaus-Architekt, war gerade wiedergekehrt, nach Jahren in den USA, und würde bald die Künstlervereinigung Grupo Ibiza 59 gründen. Und Richard Williams hatte sich eben niedergelassen, der Animationsfilmer, der 1971 einen Oscar bekommen sollte. Zu dieser Zeit wurde er Dieter Loerzers bester Freund.

„Wenn du mit dem Schiff ankamst, das war so überwältigend…“, sagt Dieter Loerzer mit brüchiger Altmännerstimme. Der Satz verebbt in Erinnerungen. Loerzer ist jetzt 81, er hatte sieben Bars auf Ibiza im Laufe seines Lebens, er wurde berühmt als erster DJ der Insel, aber geblieben ist nichts außer 6000 Platten. Gäste empfängt er im „Can Curreu“, einer kleinen Kneipe im Norden, an der Straße von Santa Eulalia nach San Carlos, ein großer, magerer Mann in kurzen Hosen, der eine Lucky Strike nach der anderen raucht, immer einen Cognac in der Hand. Er ist ein Erzähler, vielleicht auch Erfinder, holt gern weit aus. Draußen döst Louis Armstrong, der Hund, in der Sonne. Loerzer nimmt den Satz wieder auf. „…damals auf dem Schiff, mit Blick auf die Burg da oben, und es roch so gut nach Rosmarin, da hab ich beschlossen, hier bleib ich.“

Alle schildern sie die Ankunft so, alle, die Ibiza damals entdeckten. Es muss gewesen sein, wie aus der Zeit zu fallen. Alle kamen sie mit dem Boot, und sich vom Wasser her anzunähern, das ist eine richtige Ankunft, das ist mehr als ein Ortswechsel. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Ländern, aber alle aus harten Zeiten. Sie wollten weg von vergangenen und aktuellen Kriegen, von rigiden Regeln, von Gesellschaften, die sie spießbürgerlich fanden. Die Spanier nannten die ersten Ausländer auf Ibiza existenzialistas, aber das traf es nicht. Beatniks, Dropouts, Bohemiens, Künstler, Flüchtlinge vor Franco und später Vietnam oder Hippies – auf Ibiza verschmolzen sie zu einer multinationalen Gemeinschaft, die sie „das neue Babel“ nannten und deren kleinster gemeinsamer Nenner es war, „etwas anderes“ zu wollen. Leben, aber nicht gelebt werden. Ibiza war eine Reaktion. Der Anfang von etwas, das bald die ganze Welt ergriff.

Mallorca? Zu konservativ. Francoland. Ibiza: noch lange nicht Schaumpartyland. Künstlerkolonie. Unberührt. Frei.

Dieter Loerzer floh vor Deutschland. Ein bisschen auch vor der Familie, der Onkel ein Freund von Göring, der Vater ein hohes Tier in der evangelischen Kirche. Eine Kindheit in Berlin-Friedrichshain, eine Jugend im Krieg, dann München. Keramiker gelernt, beim Bauern gejobbt, Platten aufgelegt im Schwabinger Dichterklub, schwer beeindruckt von den „märchenhaft schlauen Leuten da“. Doch dann das Wirtschaftswunder. Dieter Loerzer sagt: „Die wollten nur wieder zeigen, dass sie die Besten sind. Die hatten nix gelernt im Krieg. Ich hielt das nicht mehr aus.“

Da saß er also eines Abends wie üblich im Suppenkeller der Exhure, die Schüssel für 25 Pfennige, ’ne Glühbirne von der Decke, und da saß auch dieser Typ im Trenchcoat wie aus dem Film „Der dritte Mann“. Und der sprach dann den Satz, der Dieter Loerzer nach Ibiza brachte: Verzeihung, möchten Sie ’nen Elefanten kaufen?

In jeder dieser alten Geschichten steckt so ein Kern, verrückt oder tragisch. Da geht ein deutscher Zirkus in Spanien Pleite, ein Verkäufer macht sich auf die Reise nach Deutschland, erzählt auch von Ibiza, und ein paar junge Leute beschließen, das „auszukundschaften“. Bei Bel Vogelberg, der Australierin, die 1958 hier landete, vier Jahre nach Dieter, war es Liebeskummer. Sie nahm einfach irgendeine Fähre, die dann eben nach Ibiza fuhr. David Bushman, der US-Hippie mit dem Millionenvermögen, kam 1964 auf der Suche nach sex, drugs and rock ’n’ roll. Und Mora, eigentlich Sigrun, das Schwarzwaldmädel aus Lörrach, die Ibizas Hippiekönigin wurde, kam, weil sie verzweifelt war.

Dass Ibiza heute nur noch als Partyinsel bekannt ist, ist die Schuld von Sendern wie RTL2, die immer nur zu Ibizas Mini-Ballermännern fahren, nach San Antonio oder an die Playa den Bossa, um die Leute dann beim Tanzen im Schaum zu filmen. Es gibt nicht mehr allzu viele, die wissen, dass Ibiza einmal eine internationale Hippiehochburg war, und fast niemand weiß mehr, dass hier ein intellektueller Aufbruch stattgefunden hat. Die Gemeinde, die das noch aus eigener Anschauung kennt, ist winzig geworden. Es gibt ein paar Merkmale, an denen man diese Menschen auf der Straße erkennen kann. Die Gesichter härter als die der Touristen, die Kleider ausgefallener, die Haare länger und immer grau, die Haut zerfurchter, weil sie nie Kosmetik benutzt haben, nur Olivenöl. Sie sind mager. Sie alle kennen sich untereinander. Sie erzählen Geschichten von vor 50 Jahren, als wären sie gestern geschehen.

„Man hatte eine Jeans und ein Shirt. Man ging zu Partys, man trank etwas, alles spontan“, sagt Bel Vogelberg. Ein Haus kostete umgerechnet 50 Euro im Monat. Ein Liter Wein drei Peseten.

Bel Vogelberg ist heute 74. „Die schöne Hippielady“ sagen die Leute zu ihr, weil sie die dicken weißen Haare offen trägt und immer eine indische Tunika. Ein Hippie war Bel aber nie. Dafür war sie zu schüchtern, zu glücklich verheiratet. Sie wollte einfach „ein einfacheres Leben“. Sie webte. 30 Jahre lang hat sie die Stoffe für Ibizas Folkloregruppen gemacht. Bis Ende der 60er hatte sie weder fließendes Wasser noch Strom. Einen Fernseher kaufte sie sich erst 1969, um den ersten Menschen auf dem Mond zu sehen. Und natürlich hat sie ihren Mann, einen Dänen, bei Dieter Loerzer kennen gelernt.

Der kam 1959 auf eine Idee, die ihn in die Annalen der Insel eingehen ließ. Er beschloss, aus der Plattensammlung mehr zu machen als ein Hobby. Hunderte junge Leute aus aller Welt waren auf der Insel, aber Musik gab es nicht. Also machte er am 1. August 1959 im Hafen von Ibiza-Stadt, dort, wo heute die Amüsiermeile ist, die allererste Bar auf: das „Domino“. Eine grüne Tür, ein schlauchartiger Raum, draußen Holztische. Er stellte sich hinter die Theke und spielte Bill Haley, Fats Domino, den frühen Paul Anka, später die Stones und Bob Dylan, es war der Beginn der hedonistischen Revolution auf Ibiza, es kamen Walter Gropius, der Architekt, Nico, das Model, Cormac McCarthy, der Autor, Leute aus Warhols Factory – das „Domino“ wurde berühmt.

Und es wurde lauter in der Künstlerkolonie. Die Hippies kamen. Die Malerin Edith Sommer, die 1962 auf der Insel landete, nennt diese Zeit „die einzige Traumzeit des Jahrhunderts“. Es gab die Antibabypille, aber noch kein Aids, es gab seit 15 Jahren keinen Krieg mehr und noch keinen Terror. Auf der Vara de Rey pflanzten die Neuen heimlich Marihuana zwischen den Oleander und freuten sich, dass die Stadt es mitbewässerte. Die meisten lebten in Fincas im Norden, im Mornatal, und trafen sich in Anitas Bar in San Carlos, aber auch in San Juan und San Miguel, San Lorenzo und San Mateo, in winzigen, kargen Orten, die bis heute manchmal nur aus Kirche, Kneipe und Laden bestehen. Wer von ihnen geblieben ist, der lebt hier. Wie David Bushman.

David Bushman hörte auf, ein Hippie zu sein, sagt er, als er keine bewusstseinserweiternden Drogen mehr nahm. Da war er 64. Jetzt ist er 76.

David Bushman sieht aus wie Mick Jagger. Dieselbe Nase, der magere Körper, die Rockstarsonnenbrille, der harte Zug um den breiten Mund, der sich in tausend scharfe Fältchen löst, wenn er lacht. Er sitzt auf der Terrasse des „Vista Alegre“ in San Juan, seine Finca ist nicht weit von hier, und trinkt Gin-Tonic. Er trägt Shorts, ein buntes Muskelshirt und eine Kette mit einer Perle um den Hals. Er mag kurze Sätze, seine Stimme knarzt, aber vielleicht spricht er ja auch absichtlich so, manchmal ist da so ein Glitzern in den Augen, das den Spaß verrät am Selbstbild des harten Althippies.

Bushman war 1962 mit einem Vermögen aus San Francisco fortgegangen. Er hatte seine Chemiefabrik verkauft, die US Peroxygen, und machte sich auf die Route der Aussteiger, Paris, Marrakesch, Kathmandu. Er habe damals nicht gewusst, was er wollte – aber er wusste, was er nicht wollte: „Ich wollte nicht mehr mit meiner Frau ficken“, sagt er, „und ich wollte dieses bullshit-jüdisch-bourgeoise Vorstadtleben nicht mehr.“

1946 war er von der Highschool abgegangen, und es war nicht wie heute: dass die jungen Leute losziehen durften, um die Welt zu sehen. „Deine Eltern bestimmten dein Benehmen, dein Land kontrollierte deine Seele, und deine Waschmaschine kümmerte sich um deine dreckigen Unterhosen“ – er habe sich schmerzhaft nach einem Platz gesehnt, wo er in Ruhe gelassen wurde, sagt Bushman, plötzlich ernst. Er sitzt am Kneipentisch, schaut raus auf die mittagsstille Straße, singt tonlos „…be on your own like a rolling stone…“

Ibiza blies ihm „den Kopf weg“. All diese Leute in indischen Trachten, Männer mit langem Haar, Frauen mit rasiertem Kopf, Vollmondpartys, jemand trommelt, jemand spielt Sitar, jeder raucht. „Sex, Drugs and Rock’n’ Roll, hast du eine Vorstellung, wie stark das ist?“

„Natürlich kannst du nicht für immer so leben“, sagt Bel Vogelberg. „Anfangs ist alles schön im Kerzenlicht, aber später siehst du einfach nur noch schlecht.“

Sie sind wenige geworden, aber es gibt sie noch. Die mit den Kerzen leben. „Fahr zu Mora und Djin“, hatte David Bushmann gesagt und wie früher eine komplizierte Karte gezeichnet, in der als Wegmarken jede Menge krüppelige Bäume und Findlinge vorkommen. Die Straße nach San Mateo, an der scharfen Kurve links, den Berg hoch, auf der Hälfte parken, dann klettern bis zum Märchenhäuschen im Wald mit dem Stierschädel über der Tür.

Mora und Djin heißen eigentlich Sigrun und Günther Schröder, aber das weiß hier keiner. Sie sind Inselberühmtheiten. Mora strickt schon seit Jahrzehnten bunte Oberteile aus knalligen Garnen, mit Federn und Perlen; auf dem Hippiemarkt in Las Dalias sind ihre Sachen Kult. Er baut Mauern, bildhauert, arbeitet als DJ und organisiert die Trommlernächte an der Cala Benirras. Sie stammt aus dem Schwarzwald, er aus der Eifel. Sie sprechen beide noch so weich, so dörflich, und das ist ein komischer Gegensatz zu ihrem so selbstbewusst exzentrischen Äußeren. Mora, groß, immer noch eine tolle Figur, feuerrote Haare, der schwarz umrahmte Blick ein wenig verschwommen, was von den vier Joints kommt, die sie sich täglich erlaubt. Djin mit Dschingis-Khan-Bart, in Lederhotpants und Schnürhemd. Das Häuschen hat er selber gebaut. Innen ist es eng und dunkel, voller glitzernder Stoffe, weicher Diwane, bunter Kostüme, Gottheiten und dem schweren Duft nach Räucherkerzen.

Die beiden sind Provokateure, immer noch, sie 67, er 54. Solche Menschen haben nie Cliquen. Sie sind Einzelgänger. Mora lief schon mit 13 ganz in Schwarz herum, Djin im Schamanenlook mit einem Schädel auf einer Stange. Es gibt Fotos von Mora, wie sie im Dominaoutfit auf der Straße vor Touristen mit der Peitsche knallt. Nur so. Um zu schauen, wie die Leute reagieren. Ibiza liebt seine Paradiesvögel; das ist vermutlich der größte Unterschied zu Mallorca. Hier dürfen, ja sollen sie so sein.

Und trotzdem ist da etwas rührend Bürgerliches an ihnen. „Die Leute denken ja, ich sei ein Vamp gewesen, dabei hatte ich auch nur vier Männer in meinem Leben“, sagt Mora ernsthaft. Djin wirft liebevoll ein: „Je mehr Leute da sind, desto extrovertierter ist sie, je weniger Leute, desto schüchterner.“ Die beiden haben vor ihrem Waldhaus einen runden Platz freigeräumt. Sie haben ein Tigerfellimitat über eine Bank drapiert und eine Vase mit Astern hingestellt. Da sitzen sie jetzt und werfen den Katzen die Fischköpfe zu, die sie vom Essen mitgebracht haben.

Moras Geschichte ist eigentlich eine traurige – und sie ist typischer für eine Ibiza-Biografie als die Klischees von den Spaßhippies. Ibiza war für viele früher mehr Fluchtpunkt als Ferienort. Mora kam 1970 an, da war sie „seelisch völlig verkorkst“. Mutter und Großmutter sehr katholisch, der Vater ein Schwein, eine Hochzeit, weil sie dachte, das müsste so sein, erzwungener Sex, ein Kind geboren, „aber ohne Liebe“, abgehauen, das Kind im Stich gelassen, lange Schuldgefühle. Sie erzählt das alles rückhaltlos, mit einem arglosen Vertrauen, das ein bisschen ins Herz sticht. „Nur durch Ibiza kam ich frei von allem“, sagt sie. Hier hat sie sich sofort wohl gefühlt. „Ich glaube ja“, sagt sie, „dass ich früher hier schon gelebt habe.“

Mora und Djin sind Inselromantiker. Da sind sie wie Dieter, Bel und David Bushman, aber Nostalgiker sind sie alle nicht. Das macht sie gelassen. Sie regen sich weit weniger darüber auf, dass ihre Heimat sich verändert, als die Edeltouristen, die Ibizafans mit ihrer besitzergreifenden Liebe. Dass Abel Matutes, der Inselfürst, jetzt eine Autobahn baut auf diesem Minieiland – so what? Nimm die alten Landstraßen, und du bist wieder im Traumland. Dass dieser Tage die Clubs mit riesigen Partys schließen und sich sicher wieder ein paar Kids unter Drogen totfahren – na ja. Sie haben schon alles gesehen. Sie werden alt, ohne ängstlich zu werden, das zumindest hat das Inselleben ihnen beigebracht.

Dass dieses Leben nicht ehrgeizig war, das rächt sich jetzt. In Deutschland würden die meisten dieser Inselpioniere als arm gelten. Aber viele von ihnen haben diese Art von Ansprüchen auch nicht. Dieter Loerzer, 81 Jahre alt, und seine Frau Tap bekommen 300 Euro Rente aus Kanada, 300 aus Spanien und 40 aus Deutschland, und damit kann man auch auf Ibiza nicht mehr gut leben. Also improvisieren sie, wie sie es ihr Leben lang getan haben. Backen Zitronentorten und bieten sie feil. Lemon Pie Meringue, zehn Stück die Woche für je 15 Euro. Eine steht draußen im Auto, sie zerfließt bestimmt schon. Ein Schluck Cognac noch, ein Zug von der Lucky, er steht auf. Loerzer geht Kuchen liefern.

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