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Kultur: Freiraum für Dissidenten: Pfarrer Hans-Jochen Tschiche erinnert sich an die DDR-Provinz

Es gibt immer wieder neuen Streit um das, was einmal DDR gewesen sein soll. Das gilt besonders für die Provinz, also alles abseits der Hauptstadt Ost-Berlin.

Es gibt immer wieder neuen Streit um das, was einmal DDR gewesen sein soll. Das gilt besonders für die Provinz, also alles abseits der Hauptstadt Ost-Berlin. Hans-Jochen Tschiche, ein profilierter DDR-Dissident, hat jetzt seine Lebenserinnerungen geschrieben, ein interessanter Einblick in die ostdeutsche Vergangenheit. Tschiche war zunächst Landpfarrer, dann Leiter der Evangelischen Akademie in Magdeburg.

Die Werte und sozialen Grundmuster der deutschen Vorkriegs-Vergangenheiten wirkten in der Provinz intensiver nach als in Ost-Berlin. Tschiches Resümee seiner Landpfarrer-Tätigkeit in den fünfziger Jahren: "Es war eine Umbruchzeit, eine jahrhundertealte bäuerliche Lebensform ging zu Ende. Ich wusste nur nicht, dass das Bauerntum im Westen viel radikaler zu Ende gehen würde als hier im Osten. Denn als ich später das erste Mal im Westen war, erschienen mir die Dörfer wie Villenvororte, in denen sich einzelne, übriggebliebene Bauern verloren. Zahlreiche Dörfer im Osten dagegen sehen heute noch so aus, dass angegraute Besucher aus den westlichen Bundesländern verzückt murmeln: Wie in meiner Kindheit! und nostalgische Anfälle bekommen. Der Sozialismus, der von sich immer behauptet hat, er sei unglaublich revolutionär und würde alles verändern, war nach der Außenansicht der Dörfer sehr konservativ und verwandelte die DDR in ein dörfliches Museum. Das war so nicht geplant. Aber was war alles in der DDR nicht geplant und geschah doch."

In Tschiches Buch wird dessen Entwicklung zu einem Dissidenten inmitten der Provinz nachvollziehbar. Sein Buch zeigt plausibel, was zu DDR-Zeiten möglich oder unmöglich war. Der Staat wirkte oft über Helfershelfer auf die Menschen ein. So versuchten immer wieder Kirchenleute, Tschiche von seinen zunehmend "staatsfeindlichen" Aktivitäten abzuhalten. 1968 predigte er auf einem Kirchentag in Stendal: "Beide Systeme, sowohl im Westen als auch im Osten, sind nicht in der Lage, friedlich zu koexistieren. Diese Systeme sind lebensbedrohend ... Wir müssen sie von innen her zersetzen. Lasst uns Sand im Getriebe sein!"

Damals wäre er, kurz nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in der CSSR, fast verhaftet worden. Die Kirche machte Druck, er solle sich versetzen lassen. Jetzt solidarisierten sich seine Gemeindekirchenräte mit ihm. Brave DDR-Bürger fuhren zum völlig überraschten Probst in Stendal und drohten dem Kirchenvorgesetzten mit Protesten. Nichts fürchtete die DDR-Macht so sehr wie öffentliche Unruhe. Um diese zu verhindern, ließ sie lieber öfter sogar die Staatsfeinde in Ruhe.

Tschiches Buch lehrt: Die DDR-Provinz war wie ein Freiraum, aber sie wurde mitunter zum freieren Raum für mögliche unerwünschte Aktivitäten. Manchmal summierten sich die Aktivitäten Einzelner zu Kreisen, die dann das Netzwerk einer subversiven Szene bildeten.

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