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Kultur: Freunde fürs Leben

Seit 1966 begeistern die Berliner Symphoniker junge Menschen für Klassik. Trotzdem soll das Orchester jetzt abgewickelt werden. Eine Liebeserklärung Freunde fürs Leben

Es war die Zeit, als auf fast allen Zetteln „Mehr Jim Knopf vorlesen!“ stand, wenn unsere Klassenlehrerin den Kummerkasten leerte. Wir waren sieben oder acht und sangen: „Habt ihr auch Schulen in Schlumpfhausen? Ja, da gibt es nur noch Pausen!“ Dann kamen ein paar Musiker der Berliner Symphoniker in unsere Schule und brachten ihre Instrumente mit. Eine Trompete, aus der man mit dem besten Willen keinen Ton herausbekam, eine Geige, die man vorsichtig anfassen musste. Dass Musikinstrumente auch Spielzeuge sind, begriffen wir an diesem Tag. Und dass Klassik nicht nur was Langweiliges für die Großen ist.

Na ja, viel Bach, Beethoven und Brahms wurde bei uns zu Hause sowieso nicht gehört. Eher Bob Dylan und Leonard Cohen. Traurige Musik, deren englische Texte Grundschüler nicht verstehen. Da war die alte Schallplatte mit der „Entführung aus dem Serail“ schon besser, fast eine Art Hörspiel. Richtig gut aber war Klassik live, nachmittags am Wochenende, wenn die Berliner Symphoniker ihre „Konzerte für die ganze Familie“ gaben. Im Konzertsaal der Hochschule der Künste in der Hardenbergstraße lag der Altersdurchschnitt so niedrig wie sonst nur auf dem Schulhof. Dazu erklärte ein Moderator mit klaren Worten, was da in der Musik vor sich ging, warum die Streicher dieses und die Bläser jenes taten.

Wenig später, so in der sechsten Klasse, wollten wir endlich in die richtige Philharmonie. Und natürlich möglichst nahe dran sitzen an den Musikern, am besten direkt hinterm Schlagzeug. Sonntags um 16 Uhr haben mir die Berliner Symphoniker die ersten, prägenden Begegnungen mit den Meisterwerken des klassischen Kernrepertoires verschafft. Bei Antonin Dvoraks „Sinfonie aus der Neuen Welt“ soll ich im Finalsatz so hingerissen mitdirigiert haben, dass man schon befürchtete, ich würde beim nächsten Tanten-Besuch „Kapellmeister“ als Berufswunsch angeben. Dazu kam es zwar nicht – doch Klassik, das hatten die Berliner Symphoniker geschafft, war für mich eine normale Freizeitbeschäftigung geworden, wie Kino oder Kneipe. Etwas, das ganz selbstverständlich dazugehört.

Seit seiner Gründung 1966 hat das Orchester Berlin gut getan, nicht nur in der Jugendarbeit. Für Menschen, die ungern nach dem Konzert im Dunkeln nach Hause fahren, gibt es die nachmittägliche Konzertreihe am Sonntag (die seit der vergangenen Saison von den Berliner Philharmonikern sonnabends kopiert wird). Die Symphoniker veranstalten kostenlose Generalproben und haben ein Arbeitslosen-Abo im Angebot. Die Musiker stellen sich regelmäßig sowohl den Dirigierstudenten wie den Tonmeistern der Musikhochschulen für deren Abschlussprüfungen zur Verfügung.

Konkurrenzlos aber war lange die Zahl der Schuleinsätze und Familienangebote der Symphoniker. Zwar hatten auch die Philharmoniker eine Hand voll „Jugendkonzerte“ pro Saison im Programm – doch die waren lediglich Wiederholungen normaler Programme zu ermäßigten Preisen. Dass Berlins Spitzenorchester mit finanzieller Hilfe der Deutschen Bank seit Neuestem das innovativste Education-Programm der Hauptstadt betreibt, schmälert die Jahrzehnte lange Pionierarbeit der Symphoniker nicht. Eines wird daran deutlich: Dass Erfolge für Avantgardisten immer auch eine Schattenseite haben. In dem Moment, wo ihr gegen alle Snobismen verteidigtes Credo endlich in der Gesellschaft akzeptiert wird, verlieren sie zugleich ihr Alleinstellungsmerkmal. Als der erste „Spiegel“-Titel zum Thema Umwelt erschien, ging der „taz“ damit nolens volens ein Teil ihrer Identität flöten.

Heute Vormittag von 11 bis 12 Uhr musizieren die Berliner Symphoniker im Foyer des Abgeordnetenhauses. Sie spielen um ihr Leben. Schon zweimal sollten dem kleinsten, bescheidensten Sinfonieorchester der Hauptstadt die Zuschüsse gestrichen werden, 1993 und 1998; zweimal rettete das Plenum des Berliner Parlaments in allerletzter Sekunde die Musikerjobs. 65000 Unterschriften gegen die Abwicklungspläne hat das Orchester diesmal bereits gesammelt. Heute kommt mindestens eine weitere Unterschrift hinzu: meine.

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