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Kultur: Frieden oder Nationalismus, das ist die Alternative

Die Erfindung Europas aus dem Geist des Romans: aus der Preisrede von Orhan Pamuk

Ich und der andere

Wir beschreiben eine Mutter, einen Vater, eine Familie, ein Haus, eine Straße, die wie die unseren sind, eine uns bekannte Stadt, das uns vertrauteste Land. Durch die seltsame Zauberkraft aber, die der Romankunst innewohnt, werden unsere Familie, unser Haus und unsere Stadt zu jedermanns Familie, Haus und Stadt. (...) Die wundersamen Mechanismen der Romankunst dienen dazu, der ganzen Menschheit unsere eigene Geschichte als die Geschichte eines anderen zu unterbreiten.

Der andere und ich

Hinter jedem großen Roman steckt meines Erachtens aber auch ein Schriftsteller, der sich daran ergötzt, sich als ein anderer darzustellen (...) In „Robinson Crusoe“ versetzen wir uns nicht nur in Robinson, sondern auch in seinen Diener Freitag. In „Don Quixote“ interessiert uns Sancho Pansa nicht weniger als der in seiner Bücherwelt lebende Ritter. Tolstois Glanzstück „Anna Karenina“ lese ich mit Vorliebe als Roman eines glücklich verheirateten Mannes, der von einer unglücklich verheirateten Frau zugrunde gerichtet wird. Als Tolstois Vorbild diente Flaubert, der selbst nie eine Ehe einging und sich an der unglücklichen Madame Bovary abarbeitete. In „Moby Dick“, der ersten großen Allegorie des modernen Romans, spürt Melville über die Jagd auf den weißen Wal den Ängsten nach, die das damalige Amerika vor allem Fremden empfand. Und der Süden des heutigen Amerika wiederum ist für Literaturliebhaber untrennbar verbunden mit Faulkners Darstellung der dortigen Welt der Schwarzen.

Ost und West

Die Probleme zwischen dem Osten und dem Westen, oder, wie ich es lieber bezeichne, zwischen der Tradition und der Moderne, zwischen meinem Land und Europa, haben immer auch mit einem nie ganz zu tilgenden Schamgefühl zu tun. Ich versuche, dieses Gefühl stets im Zusammenhang mit seinem Gegenbegriff zu sehen, nämlich dem „Stolz“. Wo jemand allzu stolz und selbstgewiss auftritt, steht bekanntlich oft ein „anderer“ im Schatten von Scham und Erniedrigung. Und wer sich erniedrigt vorkommt, bei dem macht sich gerne stolzer Nationalismus bemerkbar. Diese Art von Scham, Stolz, Erniedrigung und Wut ist das Material, aus dem ich meine Romane forme. Da ich aus einem Land komme, das Einlass nach Europa begehrt, weiß ich nur allzu gut, wie leicht solche heiklen Gefühle sich gefährlich steigern können. So möchte ich von dieser Scham in dem Flüsterton sprechen, den ich aus den Romanen Dostojewskis zu vernehmen glaube, so als täte ich ein Geheimnis kund. Die Romankunst hat mich nämlich gelehrt, dass es eine befreiende Wirkung hat, verborgene Schamgefühle mit anderen zu teilen.

Roman und Nation

Religionsgemeinschaften, Stämme oder Völker gelangen heute über Romane zu den tiefsten Einsichten über sich selbst, diskutieren mit Hilfe von Romanen ihre Identität, und selbst wenn die meisten von uns nur zum Roman greifen, um sich zu amüsieren oder einfach nur die Flucht aus der Alltagswelt zu ergreifen, werden sie beim Lesen unbewusst über die Gemeinschaft, das Volk oder die Gesellschaft, der sie angehören, zu reflektieren beginnen. Deshalb ist der Roman nicht nur für das Glück und den Stolz der Völker, sondern auch für ihre Wut, ihre Empfindlichkeit und ihre Scham so ein fruchtbares Terrain. Wegen dieser Empfindlichkeit, dieser Scham und dieser Wut wird noch immer Schriftstellern gezürnt, wird nach wie vor eine eklatante Intoleranz an den Tag gelegt, werden Romane verbrannt und Schriftsteller vor Gericht gezerrt.

Europa und die Türkei

Die Art und Weise, in der bei der letzten Bundestagswahl von manchen Politikern auf Kosten der Türkei und der Türken Wahlkampf betrieben wurde, finde ich nicht weniger gefährlich als das Gebaren mancher türkischen Politiker, die gegenüber dem Westen und Europa gerne auf Konfrontationskurs gehen. Es ist das eine, den türkischen Staat wegen seiner Demokratiedefizite oder seiner wirtschaftlichen Lage zu kritisieren, und es ist etwas anderes, die ganze türkische Kultur oder die türkischstämmigen Menschen herabzuwürdigen, die in Deutschland unter weit schwierigeren Bedingungen leben als die Deutschen selbst. Die Türken wiederum reagieren auf diese Verunglimpfungen mit der Empfindlichkeit des Abgewiesenen. In Europa eine Türkenfeindlichkeit zu schüren, führt leider dazu, dass sich in der Türkei ein europafeindlicher, dumpfer Nationalismus entwickelt. Wer an die Europäische Union glaubt, sollte einsehen, dass es hier um die Alternative zwischen Frieden und Nationalismus geht. Hier liegt die Entscheidung, die wir treffen müssen. (...)

Was die Türkei und die Türken Europa zu bieten haben, das ist in erster Linie Frieden, das ist der Wunsch eines muslimischen Landes, an Europa teilzuhaben, und das sind die Sicherheit und das Stärkepotenzial, die Europa und Deutschland gewinnen würden, sollte diesem friedlichen Anliegen der Türkei entsprochen werden. In all den Romanen, die ich in meiner Jugend las, wurde Europa nicht über das Christentum definiert, sondern vielmehr über den Individualismus. Europa wurde mir auf attraktive Weise durch Romanhelden vermittelt, die um ihre Freiheit kämpfen und sich verwirklichen wollen.

Europa verdient Anerkennung dafür, dass es auch außerhalb des Westens die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefördert hat. Wenn Europa aber vom Geist der Aufklärung, der Gleichheit und der Demokratie beseelt ist, dann muss die Türkei in diesem friedliebenden Europa ihren Platz haben.

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