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Die talentierte Miss Highsmith: Patricia Highsmith 1948 in London.

© picture alliance / AP

Frühe Stories von Patrica Highsmith zu ihrem 100.: Perversionen und andere Grausamkeiten

Liebesglück? Ausgeschlossen! Die Erzählungensammlung „Ladies“ zeigt die Meisterschaft von Patricia Highsmith schon in ihren jungen Jahren.

„Doch am fünften Nachmittag fragte er nicht mehr.“ Ein Schlusssatz wie ein Messerstich. Er besiegelt das Ende der sehr kurzen aber intensiven Kinderfreundschaft zwischen Philip und Dickie, die sich zufällig in einem New Yorker Park kennen gelernt haben. Ihre Mütter sitzen auf zwei dort aufgestellten Bänken, während die etwa dreijährigen Jungen auf dem Rasen zwischen ihnen spielen.

Mrs. Robertson, Philips Mutter, passt das nicht, weshalb sie ihren Sohn bald darauf wegzerrt. Als sie am nächsten Tag wieder in den Park kommen, sind die andere Mutter und ihr Sohn schon da. Philip kreischt „Dickie!“ und rennt auf den Jungen zu, der ihm seinen Ball entgegenstreckt. Beide fallen sich in die Arme, kugeln auf dem Boden herum.

Dass Mrs. Robertson am Tag darauf nicht mehr in den Park geht und Philips Fragen nach seinem Freund fünf Nachmittage lang ignoriert, rechtfertigt sie vor sich selbst mit Dickies angeblicher Unreinlichkeit und schlechter Erziehung. Der wahre Grund ist jedoch Neid – auf das Glück ihres Sohnes und wohl noch mehr auf das Glück von Dickies Mutter, die sich am zweiten Tag auf der Bank mit einem Geliebten trifft.

„The Envious One“ (Die Neidische) lautete passenderweise der Titel dieser Kurzgeschichte von Patricia Highsmith, als sie 1949 im Magazin „Today’s Woman“ erschien.

Alle Erzählungen von "Ladies" sind in den vierziger Jahren entstanden

Jetzt findet man sie unter der Überschrift „Die stille Mitte der Welt“ neben 15 weiteren, zuvor größtenteils in Zeitschriften oder Sammelbänden verstreuten Erzählungen der US-Autorin in dem Band „Ladies. Frühe Stories“. (Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, Dirk van Gunsteren und pociao. Diogenes Verlag. Zürich 2020. 310 S., 22 €.)

Bis auf die erstmals veröffentlichte Geschichte „Primeln sind rosa“, die Highsmith 1936 in der High School schrieb, sind sie allesamt in den vierziger Jahren entstanden. Damals schlug sich Highsmith nach ihrem Collegeabschluss in wechselnden Jobs durch, bis sie Ende 1942 eine Anstellung als Autorin eines Comicbuch-Verlages bekam.

Sie zog aus ihrem Elternhaus in ein kleines Apartment in der 56. Straße an der Kreuzung zur First Avenue, wo sie abends und am Wochenende an ihren Kurzgeschichten arbeitete und sich auch an einem Roman („The Click of the Shuttting“) versuchte.

Zahlreiche „Ladies“-Geschichten lassen bereits erkennen, was Highsmiths Prosa später auszeichnen sollte: Ihre präzise Sprache, ihr Talent für Spannungsaufbau – und ihre Vorliebe für einsame oder von der gesellschaftlichen Norm abweichende Figuren. „Wahnsinnige Menschen sind die einzigen aktiven Menschen, sie haben die Welt erschaffen“, schrieb sie 1942 in ihr Notizbuch.

Darin vermerkte sie auch, vor allem an Perversionen und Grausamkeit interessiert zu sein.

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In der Geschichte „Die Heldin“, die 1945 in „Harper’s Bazaar“ erschien, steht eine zutiefst verstörte junge Frau im Zentrum: Das Kindermädchen Lucille tritt einige Wochen nach dem Tod ihrer psychisch kranken Mutter eine neue Stellung an, wo alles gut zu laufen scheint. „Ja, in diesem perfekten Haus, abgeschlossen von der Außenwelt, konnte sie vergessen und von vorn anfangen.“

Dass daraus wohl nichts werden wird, ahnt man ab der zweiten Seite, auf der es heißt, dass Lucille die Angewohnheit hat, kleine Papierfetzen im Aschenbecher zu verbrennen. Das kommende Unheil flackert auf.

Die meisten Geschichten sind in New York angesiedelt oder haben einen Bezug zu der Stadt, in der Highsmith lebte, seit sie sechs war. Auffällig oft kommen in den Erzählungen Kinder vor.

Dazu gehört auch „Die Weltmeisterin im Ballwerfen“, ein zuvor unveröffentlichter Text und ein Highlight der Sammlung. Er handelt vom ersten New Yorker Morgen einer aus Alabama zugezogenen dreiköpfigen Familie, die beim Frühstück ihre Verunsicherung zu überspielen versucht.

Von der Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Kontakte

Tochter Ellie findet: „Irgendetwas stimmte nicht mit dem Haus und dem ganzen Morgen. Man konnte es fühlen, hören, schmecken und riechen – nur nicht sehen. Sie saß ganz still und hielt den Atem an, weil sie ihrer Mutter das Gefühl nicht beschreiben konnte.“

Die Eltern schicken sie schließlich nach draußen, wo gerade ein Mädchen mit einem Ball spielt. Die Tochter soll Kontakt aufnehmen, sich mit ihr anfreunden – Ellies erste Lektion in Abweisung und Täuschung in der großen Stadt.

Die Beschwerlichkeit, ja Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Kontakte wird in „Ladies“ mehrmals aufgegriffen. Vor allem Liebesglück scheint dabei vollkommen ausgeschlossen zu sein. Den einzigen Mordversuch der Erzählsammlung begeht denn auch eine misshandelte Ehefrau („Als die Flotte im Hafen lag“).

Highsmith schreibt wie meist aus einer allwissenden Perspektive oder in der Dritten Person. Oft sind es – wie in ihren berühmten Thrillern – Männer, aus deren Sicht erzählt wird. Der Titel des Bandes führt daher ein wenig in die Irre. Es gibt sogar eine völlig frauenfreie Erzählung („Der Schatz“) und eine, die von zwei Spinnen erzählt („Die Geschichte von Sydney“).

Allerdings sind es die weiblichen Figuren, die stärker in Erinnerung bleiben. Eine davon ist die Sekretärin aus „Blumen für Louisa“, die plötzlich zur Krankenschwester ihrer an Scharlach erkrankten Nachbarinnenfamilie wird – und für ihre aufopferungsvolle Güte mit güldenen Zukunftsaussichten belohnt wird. Bei aller Märchenhaftigkeit dieser Wendung gönnt man es ihr von Herzen – und freut sich, dass die misanthropische Autorin Patricia Highsmith auch einmal liebevoll mit einer Heldin umgeht.

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