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Kultur: Frühstart im Freien

Claudio Abbado und die Berliner Philharmoniker spielen in der Waldbühne

Wenn Simon Rattle auf die Bühne kommt, ist das in Berlin normalerweise kein Grund zur Beunruhigung. Als der Philharmoniker-Chef allerdings am Sonnabend vor sein Orchester tritt, fährt so manchem der 18000 Besucher in der Waldbühne doch der Schreck in die Glieder: Schließlich soll eigentlich sein Vorgänger Claudio Abbado dieses nach dem Brand ins Freie verlegte Konzert dirigieren. Seit der Krebserkrankung des Maestros schweben die Fans in ständiger Sorge.

Am Donnerstag hatte sich der 74-Jährige bei der Probe vom Rundfunkchor-Leiter Simon Halsey vertreten lassen. Tags darauf erschien er zwar wieder zur Generalprobe, doch ist nun sicherheitshalber im Backstage-Bereich der Waldbühne ein Wohnmobil aufgestellt, damit Abbado sich vor und zwischen den Werken notfalls ausruhen kann. Rattle aber hat zum Glück keine schlechten Nachrichten, sondern ist gekommen, um sich bei den Feuerwehrleuten und Polizisten zu bedanken, die beim Desaster am Dienstag so besonnen reagiert und geholfen hatten: „Wir alle senden Ihnen unsere tiefste Dankbarkeit und Liebe!“, ruft Rattle ins Rund. Riesenapplaus.

Dankbarer Beifall empfängt dann natürlich auch Claudio Abbado und seinen Pianistenfreund Maurizio Pollini, die klaglos bei dieser Drei-Konzerte-an-einem-Abend-Aktion im luftigen Notquartier mitmachen, obwohl Open-Air-Auftritte nun wahrlich nicht ihre Sache sind. Die Berliner Philharmoniker setzten ihre Instrumente an, Pollini greift in die Tasten – und Beethovens 4. Klavierkonzert erklingt aus dem größten Kofferradio der Welt. Drei Wochen früher als geplant startet die Waldbühne mit einer notdürftig installierten Tonlage in die Saison.

Der Sound ist dumpf und mulmig, scheint zu wandern, kommt näher, verweht wieder. Allein im Andante, wenn der Solist im poetisch-feinen Pianissimo schwelgt, wird der Klang ganz präsent, vermag Pollinis Spiel auch über die weite Distanz zu packen.

So markiert dann auch eine leise Passage den Höhepunkt von Hector Berlioz’ „Te Deum“, wenn die Rundfunkchöre aus Berlin und München eindringlich um Erbarmen flehen. Der Rest jedoch des monumentalen Werkes scheppert nur so durch die Lautsprecher, die raffinierte Instrumentationskunst, für die der französische Komponist geschätzt wird, geht vollkommen unter. Was soll's: Wenn die Trompeten und Posaunen schmettern, wenn die masses chorales ihre Stimmen vereinen – 400 Kinder und 200 Profisänger! –, dann geht es nicht mehr um Interpretationsdetails, dann stellt sich auch die Frage nicht mehr, was nun ausgerechnet den Feingeist Claudio Abbado an diesem unchristlichen Bombast interessiert, dann zählt bei rapide sinkenden Temperaturen nur noch das herzwärmende Gemeinschaftsgefühl, die Solidarität mit den temporär obdachlos gewordenen Künstlern.

Eine der höchsten italienischen Tugenden ist es, selbst in brenzligen Situationen immer bella figura zu machen, sich nichts anmerken zu lassen. Signore Pollini, Maestro Abbado und den professori d'orchestra ist das am Sonnabend gelungen. Grazie a tutti!

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