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Kultur: Für die ganze Welt

Alan Gilbert, Chef der New Yorker Philharmoniker, über die Spielkultur seines Orchesters

Mister Gilbert, als Chef zu einem Orchester zu kommen, dessen Mitglieder man von Kind auf kennt, kann heikel sein. Ihr Vater hat bei den New Yorkern gespielt, ihre Mutter sitzt dort immer noch am Pult. Sie sind das Baby des Orchesters, mit dem Sie jetzt in Berlin gastieren.

Das stimmt. Aber grundsätzlich ist die Sache klar: Ich bin dafür verantwortlich, dass das Orchester die Spitzenleistung bringt, die man von ihm erwartet. Also gehört es auch zu meinem Job, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Wir wollen die Besten sein. Und ich bin nicht mehr der kleine Alan von früher.

Wo liegen die besonderen Stärken der New Yorker Philharmoniker?

Mich beeindruckt die Flexibilität, durch die das Orchester in der Lage ist, ein erstaunlich breites Repertoire stilistisch überzeugend zu spielen. Und der Ernst, mit dem sie Musik machen. In den Proben brauchen wir nie über Basics zu reden, weil alle exzellent vorbereitet sind.

Was haben Sie bisher von ihren Musikern am meisten gelernt?

Orchester wie die New Yorker haben bei Werken, die sie kennen, die Tendenz, bestimmte Dinge von allein zu tun. Zum Beispiel pendelt sich ein bestimmtes Tempo fast automatisch ein. Das hat mit der Tradition zu tun, die durch Chefdirigenten wie Bernstein und Boulez, Mehta, Masur und Maazel geprägt wurde. Diese Traditionen sind oft wunderbar, aber ich muss die Balance finden zwischen diesem kollektiven Gedächtnis und meinen eigenen Interpretationen. Diese Balance verschiebt sich jeden Abend: Man merkt, dass das Orchester an einer bestimmten Stelle wie ein Organismus zu atmen beginnt und plötzlich mehr Zeit braucht.

Sie haben sich in ihren ersten anderthalb Jahren stark mit Neuer Musik profiliert.

Ja, obwohl ich mich gar nicht als Spezialist verstehe. Ich finde solche Unterscheidungen ohnehin willkürlich. Letztlich geht es bei jedem Werk darum, herauszufinden, was es über mich selbst und das Leben sagt. Nur ist uns die Sprache zeitgenössischer Musik oft nicht so vertraut. Für mich ist es deshalb zentral, immer mehrere Werke eines Komponisten zu spielen, von Magnus Lindberg zum Beispiel, unserem aktuellen composer in residence. Nur so wird das Publikum überhaupt mit seiner Sprache vertraut.

Hat ausgerechnet New York in Sachen Moderne einen Nachholbedarf?

Tatsächlich gibt es in New York zwar eine Menge Avantgarde-Kultur, aber sie hat in letzter Zeit nicht das Profil der Stadt prägen können. Und auch die Philharmoniker waren in dieser Hinsicht nicht besonders aktiv. Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, da neue Impulse zu geben. Meine bisherigen Erfahrungen waren ausgesprochen positiv: Zum Beispiel mit der New Yorker Erstaufführung von Ligetis „Grand Macabre“ oder der Aufführung des Orchesterwerks von Varèse.

Während andere amerikanische Orchester kaum mehr auf Tournee gehen, sind die New Yorker nach wie vor fleißig unterwegs: Deutschland besuchen Sie jetzt zum dritten Mal innerhalb eines Jahres. Welchen Stellenwert haben Reisen für das Orchester?

Tatsächlich sind wir das einzige US-amerikanische Orchester, das so regelmäßig auf Tournee gehen kann – natürlich auch dank eines großzügigen Sponsorings von Credit Suisse. Darüber hinaus war das Reisen für die New Yorker Philharmoniker schon immer etwas anderes als für andere Orchester – die zentrale Bedeutung solcher Tourneen geht ja bis in die Ära Toscanini zurück. Ich glaube, man hat hier traditionell das Gefühl, für die ganze Welt zu spielen. Nicht von ungefähr haben wir viele internationale Förderer. Und natürlich sind Tourneen ein gutes Mittel zur Steigerung der Spielkultur: Der besondere Druck, der bei Auftritten in Berlin oder Wien auf den Musikern lastet, setzte eine Extraportion Adrenalin und Konzentrationsfähigkeit frei. Wenn die Musiker von einer Tour zurückkommen, spielen sie einfach besser.

Das Gespräch führte Jörg Königsdorf. Das New York Philharmonic Orchestra ist am 19.5. um 20 Uhr mit Werken von Gustav Mahler zu Gast in der Philharmonie.

Alan Gilbert, 44, ist seit September 2009 Chefdirigent

des New York

Philharmonic.

Er ist der Sohn

der Geiger

Michael Gilbert

und Yoko Takebe.

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