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Kultur: Für immer femme fatale

Eine äußerst überraschende Begegnung mit der 92-jährigen türkischen Operndiva Semiha Berksoy

Von Carsten Niemann

Das hatte man dann doch nicht erwartet: Schließlich sollte es nur ein kurzer Auftritt in der Produktion einer Operette des 1902 geborenen, bedeutendsten modernen türkischen Dichters Nazim Hikmet sein, mit der das Staatstheater Istanbul das siebte internationale „dyalog“-Theaterfest im Berliner Hebbel-Theater eröffnete. Doch die alte Dame, die am Ende von „Bu Bir Rüyadir“grell geschminkt, mit knappem Rock und einer gewagten Hutkreation von monströser Fantastik aus dem Bühnenboden gefahren kam, stahl dem Ensemble fast die Show.

Nicht umsonst ist die 92-jährige türkische Opernsängerin, Künstlerin und Schriftstellerin Semiha Berksoy eine lebende Legende. Wobei die Betonung ganz auf lebend liegt: Ihre Aura verdankt sie beileibe nicht nur der Tatsache, dass sie bereits 1934 an der Uraufführung dieses Werks aus der Feder des „türkischen Brecht“ mitwirkte – obwohl das Stück, in dem zum Erstaunen der meisten deutschen Zuschauer im Hebbel-Theater kräftig gekifft wird, noch heute einen grellen Kontrapunkt zu gängigen Klischeevorstellungen türkischer Kultur zu setzen vermag. Als die Berksoy aber stehend anhob, um mit hohler, aber ausdruckskräftiger Stimme Toscas Arie „Vissi d’ arte“ aus Puccinis Oper in Hikmets Übersetzung anzustimmen, da riss ihr mit Chuzpe hingelegtes Bekenntnis zur Kunst (und zu sich selbst) das Publikum mit vollem Recht applaudierend von den Stühlen.

Bewunderer, die die Diva in der Garderobe aufsuchen, vertröstet die Berksoy auf später: Vom Theater eilt sie direkt ans Berliner Ensemble zur Geburtstagsparty von Bob Wilson, mit dem sie 1999 in New York arbeitete. Tags darauf in ihrem Hotelzimmer gibt die lebenslustige Frau („Ich bin gerne alt“) und wohl letzte wahre „femme fatale“ nur wenig Anekdotisches aus der Vergangenheit preis. Dabei gäbe es viel zu erzählen: 1931 wirkte sie an dem ersten türkischen Tonfilm mit, 1936 ging sie zum Gesangsstudium nach Berlin, das sie mit der Darbietung der Titelpartie von „Ariadne auf Naxos“ zum 75. Geburtstag des Komponisten Richard Strauss krönte. 1939 kehrte sie in die Türkei zurück, wo Kemal Atatürk sie persönlich auserwählt, in der ersten türkischen Oper zu singen.

Ihre Affäre mit dem inzwischen aus politischen Gründen inhaftierten Nazim Hikmet, der sie aus dem Gefängnis mit Opernübersetzungen versorgte, trug ihr heftige Anfeindungen als „Kommunistin" ein. Den Besucher ermuntert sie, die lobenden Worte aus den Zeugnisse ihrer Berliner Mentoren Clemens Schmalstieg oder Max Erlen fleißig zu notieren. Doch dann eilt sie mit behenden Schritten an den vergilbten Dokumenten vorbei, um ihren Koffer zu öffnen – und schon ist das Hotelzimmer bedeckt von ihren neuen Gemälden: ein erotischer Liebestod, hingeworfen mit flammenden Strichen, ein Frauenkopf mit Berksoys Hutkreation und irgendwo sogar ein kleiner Nazim Hikmet mit winzigen, leuchtenden blauen Augen.

Weitere Aufführungen zu Nazim Hikmet beim „diyalog“-Theaterfest finden noch bis zum 2. November 2002 im Ballhaus Naunynstraße und im Hebbel-Theater statt. Informationen unter der Nummer: 25 88 66 47 oder unter: www.theater-diyalog.com

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