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Hinan, hinan, ans Licht. Die Rotunde der Stadtbücherei Stockholm von Gunnar Asplund, eröffnet im März 1928 und Vorbild für spätere Bibliotheksbauten. Foto: © Roland Halbe

© Roland Halbe, Stuttgart

Kultur: Für mündige Leser

Geschichte und Gegenwart der Bibliothek: eine Ausstellung in München

Ein hohes Portal gewährt Einlass, eine Treppe führt aus dem Halbdunkel nach oben, in die Helligkeit einer zylindrischen Lesehalle. Am Kreisrund ihrer Außenwände sind Bücher in Regalen angeordnet, drei Etagen hoch. Alles ist zugänglich, alles greifbar, alles kann im Saalrund gelesen werden. Das ist der Kerngedanke der Freihandbibliothek, architektonisch mustergültig zum Ausdruck gebracht in der „Stockholms stadsbibliotek“, der Stockholmer Stadtbücherei von Gunnar Asplund, erbaut 1918 bis 1927.

Asplund ist einer der Wegbereiter einer dezidiert nordischen Architektur. Asplund wollte der Bibliothek Würde verleihen, den Lesesaal für jedermann zugleich als Sakralraum des Lesens und Denkens auszeichnen. Spätere skandinavische Architekten haben stärker den demokratischen, auf Zugang für jedermann ausgerichteten Charakter der Volksbücherei betont, so vor allem Alvar Aalto.

Beide Büchereibauten sind prominent in der Ausstellung „Die Weisheit baut sich ein Haus“ zu sehen, die das Architekturmuseum der TU München jetzt in ihren Gasträumen in der Pinakothek der Moderne ausrichtet. Der Titel, ein Zitat aus den alttestamentarischen Sprüchen Salomos, findet sich in älteren Bibliotheken; beispielsweise im Deckenfresko einer der berühmtesten Barockbauten, dem Prager Kloster Strahov, und natürlich bezieht es sich zuallererst auf theologische Büchereien. So waren Klosterbibliotheken die ersten nachantiken Sammelstätten, ehe die Gutenberg-Revolution, die Erfindung des Buchdrucks, eine wahre Explosion der Informationsvermittlung bewirkte und Bücher für Adel und Bürgertum zugänglich und mehr und mehr auch erschwinglich machte.

Das Zitat des weisen Königs Salomo hat jedoch eine tiefere Bedeutung. Es geht um Weisheit, um ein reflektiertes Wissen. Eine Menge von 50 000 Männern macht keine Armee, und eine Ansammlung von 30 000 Büchern keine Bibliothek, soll der französische Gelehrte Gabriel Naudé 1627 gesagt oder vielleicht eher geseufzt haben. Ohne Ordnung keine Bibliothek. Insofern stellen Bibliotheken nicht allein eine Ordnung von Geschriebenem, Gedrucktem oder heutzutage auch Digitalem dar, sondern spiegeln die Auffassung von Wissen und Weisheit einer jeweiligen Epoche. Und den Umgang mit ihr, der die ratlosen Bibliothekare von heute am Sinn ihres hergebrachten Tuns zweifeln und stattdessen auf soziale Treffpunkte und Erlebnisräume setzen lässt.

Die von dem Architekturhistoriker und Leiter des TU-Museums, Winfried Nerdinger, verantworteten Ausstellungen sind selbst Muster an innerer Folgerichtigkeit, und für die Bibliotheksdarstellung hat er sich einen kongenialen Partner gewählt: Werner Oechslin, langjähriger Professor an der Zürcher ETH, der eine der weltgrößten Büchersammlungen zur Architekturgeschichte aufgebaut und im schweizerischen Einsiedeln als Stiftung in einem Gebäude von Mario Botta zugänglich gemacht hat. Von dort stammen die kostbaren Traktate, die in der Münchner Ausstellung das erste Kapitel, „Die Ordnung des Wissens“ erläutern. Immanuel Kant, der große Philosoph aus Königsberg, bringt es in seiner „Kritik der Urteilskraft“ auf eine kurze Definition: „Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme.“

Buch und Haus, Bibliothek und Architektur korrespondieren also. Im zweiten Kapitel entfaltet die Ausstellung eine Typologie von Bibliotheksbauten in wundervoll genauen Holzmodellen, von einfachen Saalbibliotheken wie der strengen Biblioteca Laurenziana von Michelangelo in Florenz (1523-71) über Zentralbauten wie die vor gut 100 Jahren als baufällig abgerissene Hofbibliothek von Wolfenbüttel (1707-13), über Karl Friedrich Schinkels nie ausgeführten, strengen Rasterbau für Berlin von 1835 bis zu Alvar Aaltos Stadtbücherei von Viipuri (1927-1935). Auch die Privatbibliothek findet Erwähnung, in Gestalt von Erich Mendelsohns Haus für den buchverliebten Kaufhauskönig Salman Schocken in dessen Jerusalemer Exil (1934-36).

Das abschließende dritte Kapitel ist mit „Quo vadis Bibliothek?“ überschrieben. Da kommen zwei berühmte Visionen zur Anschauung, zum einen Etienne-Louis Boullées megalomaner Entwurf einer tonnengewölbten Saalbibliothek, der der französischen Revolutionsarchitektur zugerechnet wird, obgleich Boullée seine Idee 1785 ganz artig dem König gewidmet hatte. Der allerdings wurde wenig später guillotiniert. Erstmals überhaupt ist dieser Entwurf in München in ein dreidimensionales Modell überführt worden, als Haus mit vermutetem Satteldach: Es wäre technisch nicht umzusetzen gewesen, der Spannweite des Tonnengewölbes wegen, die erst mit Stahl hätte erreicht werden können. Und daneben, ebenfalls kaum zu bauen, ob mit Stahl oder dem damals hoch modernen Aluminium, Iwan Leonidows Projekt des „Lenin-Instituts“ für Moskau von 1927 . Leonidow, später als Formalist verfemt, hat eher die Utopie des Sozialismus architektonisch dargestellt als einen realisierbaren Vorschlag unterbreitet.

An dieses Ausstellungskapitel historisch beispielhafter Bauten schließt Max Dudlers Berliner Bibliothek der Humboldt-Universität an, gerade weil sie, aller zeitgeistigen Aversion gegen zentrale und noch dazu symmetrische Lesesäle zum Trotz, als zur Konzentration rufender Studienraum enorme Beliebtheit genießt. Man könne auch bei „Starbuck’s“ studieren, wie es so gerne heißt? So studientauglich sind die Verlockungen von W-Lan und Internet eben doch nicht. Dudlers scheinbar antiquierter Entwurf hingegen ist, den Bedürfnissen der Nutzer nach zu urteilen, enorm zeitgemäß.

Sind Bibliotheken veraltet? Die Frage ist nicht neu, aber sie stellt sich im elektronischen Zeitalter in ungekannter Schärfe. In einer Folge der Comic-Serie „Die Simpsons“ empfiehlt die quicke Marge ihrem begriffsstutzigen Ehemann Homer, beider vereinsamte Eltern doch „in den Lesesaal einer Bibliothek zu bringen, wo sie Zeitschriften für ältere Menschen lesen“ könnten. Diese unscheinbare Szene verrät gleich dreierlei. Zum einen, dass Bibliotheken unverändert als Anlaufstelle für Information gelten. Zum zweiten, dass sie zwischenmenschlichen Kontakt ermöglichen. Und drittens, dass die Institution Bibliothek mit Altsein assoziiert werden kann oder gar muss.

Und doch sind kaum je so viele Bibliotheken errichtet worden wie in unseren Tagen. In Berlin entstanden gleich drei universitäre Bücherspeicher, darunter als zweites Architekturjuwel die Geisteswissenschaftliche Bibliothek der FU des englischen Weltbaumeisters Norman Foster.

Es bedarf offenbar der Aura der Bibliothek als einer gebauten Ordnung des Wissens. Den Gedanken der Würde des mündigen, mit Verstand begabten Menschen vereint Asplund in Stockholm mit durchaus funktionalistischen Motiven. Dudler gibt diesem Konzept in Berlin eine zeitgenössische Form. Bibliotheken können nur leben als Orte der Offenheit, der Gedanken- und Informationsfreiheit. Auch das ist aus den skandinavischen Vorbildern – so aktuell wie nie – zu lernen.

In der Münchner Ausstellung ist zu besichtigen, wie lebenskräftig der Gedanke der Bibliothek geblieben ist: Im Jahre 2002 wurde die neue Bibliothek von Alexandria eingeweiht, die an die größte Bibliothek des Altertums mit geschätzten 700 000 Schriftrollen erinnert. Niemand weiß, wann diese Bibliothek zerstört wurde, ob durch Cäsar oder erst durch arabische Eroberer. Der Ruhm der alexandrinischen Bibliothek hat ihre Vernichtung überlebt. Und so, lautet das Münchner Fazit, wird die Idee der Bibliothek auch die Digitalisierung überstehen.

München, Architekturmuseum der TU in der Pinakothek der Moderne, bis 16. Oktober. Begleitbuch im Prestel Verlag, 416 S., geb. 35 €, im Buchhandel 49,95 €.

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