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Das fliegende Klassenzimmer. „Getto-Girl“ im Stück von Chris Kondek. Foto: M. Lieberenz

© Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Kultur: Für Sitzenbleiber

HAU mal so: „X-Schulen“ in der Kreuzberger Hector-Peterson-Oberschule

Alle hinsetzen, aufgepasst, Hefte raus. Der Geschichtsunterricht beginnt. Und es soll, so kurz vor dem Schuljahresende, bitte niemand behaupten, er wisse schon alles. Über Adolf Hitler zum Beispiel. Der hatte nämlich, wie der Lehrer David von Westphalen im Turbo-Referat ausführt, einen zweieiigen indischen Zwillingsbruder namens Subhash Chandra Bose, den sie in Fernost „Netaji“ nannten, was „Führer“ bedeutet. Diese unheilvolle familiäre Dopplung geht zurück auf einen Fehltritt von Mutter Klara in einem Ashram – und sie erklärt einiges. Das Hakenkreuz zum Beispiel, ein indisches Symbol. Und der Hitlergruß ist die Schrumpfform einer besonders schwierigen Yogaübung. Alles klar? Während man, den Kopf voller weltverändernder Informationen, das Klassenzimmer wieder verlässt, fällt der Blick auf ein Schild an der Tür, das ziemlich undidaktisch für den Schulbesuch wirbt: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“

Die muntere Historien-Lektion aus Unfug und Fakten stammt vom Kasseler Flinntheater. Sie ist Teil des Projekts „X-Schulen“, das vom Hebbel am Ufer und der Hector-Peterson-Oberschule in Kreuzberg veranstaltet wird. Das von Matthias Lilienthal erfundene Format „X-Wohnungen“, das Künstler mit Kurzperformances in real existierenden Wohnraum einbrechen lässt, ist längst zum Exportschlager von Sao Paulo bis Warschau geworden (Tsp. vom 21. 6.). Nun erprobt das HAU das Konzept in einer Institution. Und es funktioniert fantastisch. Mit einem internationalen Trupp von Regisseuren und Gruppen sind 21 Mini-Inszenierungen entstanden, in denen vielfach die Schüler als Protagonisten oder Performer ihrer selbst auftreten.

Bildungseinrichtung wird Bühne. Die Künstler und die Siebt- bis Zehntklässler haben sich das gesamte Gebäude erobert, vom Keller bis zum Klo. Sie verkehren die gewohnten Rollen. Womit sehr schön im Beitrag von Tamer Yigit und Branka Prlic gespielt wird, die ihren jugendlichen Hauptdarsteller in einen so surrealen wie hintersinnigen Elternabend schicken („Ich bin der der einzige Vater hier – kommen die anderen nicht, weil sie kein Deutsch können?“).

Der Zuschauer ist mal Sitzenbleiber, mal Aushilfspädagoge. Klar wird man auf diesem Parcours in die eigene Schulzeit zurückkatapultiert, bei jedem Blick auf die Tafel, selbst im Treppenhaus, wo Rucksäcke hängen, die Lisa Lucassens akustisches Archiv der Schulerinnerungen enthalten. Viele schöne sind nicht darunter, von Langeweile, Einsamkeit und Demütigungen ist dagegen die Rede („Bin bei Rot über die Ampel gelaufen und verpetzt worden, und dann musste ich vor der ganzen Klasse ‚Bei Rot bleibst du stehen, bei Grün darfst du gehen’ singen“). Die Schule, ein Ort des Grauens – das nimmt die Münchner Gruppe ZomboCombo wörtlich, die im Keller eine Geisterbahn aufgebaut hat, durch die man auf einer ruckelnden Stuhlreihe gezogen wird. Sie lehrt das Fürchten davor, ein Lebensgefühl könne getroffen sein.

Heimeligkeit will nicht aufkommen. Die Feuerzangenbowle ist lange kalt, wo gestern Nostalgie war, herrscht heute Ideologie. Bildung ist Währung, entsprechend pfennigfuchserisch werden die Debatten um Schulreform und Pisa-Studie geführt, entsprechend kapitalbewusst planen Eltern die Schulkarriere der Kinder. Wer die Möglichkeit hat, meidet Anstalten, wo es zugehen könnte wie im Ethikunterricht von Boris Nikitin. Der zeigt recht authentisch wirkende Auflösungserscheinungen – die Schüler verlassen zwischendrin feixend den Raum, dem legasthenischen Lehrer ist es auch egal.

An der Hector-Peterson-Oberschule, die nach einem südafrikanischen Jungen aus Soweto benannt ist, der während einer Demonstration erschossen wurde, haben 95 Prozent der 500 Schüler einen sogenannten Migrationshintergrund. Schülerinnen erzählen vom „Nazar Boncuk“, dem blauen Auge, einem Amulett, das einem türkischen Aberglauben zufolge vor dem bösen Blick schützt. Ein anderer zitiert auf elektrisierende Weise Goethes „Prometheus“. Wieder andere spielen im Beitrag der Queer-Art-Ikone Vaginal Davis Xylofon, zu einem Mix aus Walkürenritt und Rap. Chris Kondek stellt im Stil eines Ethno-Pornos zwei echte Exemplare der Gattung „Getto-Girl“ aus, während im Hintergrund Bilder vom Kottbusser Tor flimmern. Nevin Aladag zieht auf dem Sportplatz ein Basketball-Match auf, bei dem jeder Fehlwurf mit Applaus vom Band quittiert wird und Treffer bloß unwirsches Geraune ernten. Was eine Gesellschaft spiegelt, die sich von ihren liebgewonnenen Verliererbildern nicht verabschieden mag.

Bloß davon, dass die Schüler sich selbst aufgegeben hätten, ist hier nichts zu spüren. Im Gegenteil. Die jungen Spieler aus Nikitins Performance rufen ihren Besuchern beim Verlassen des Klassenzimmers zu: „Viel Glück noch!“

Hector-Peterson-Oberschule, Tempelhofer Ufer 15, wieder am heutigen Sonnabend und 4. Juli, 14 - 15.10 Uhr und 19 - 20.10 Uhr

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