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Kultur: Furchtlos in der Zirkuskuppel „4 alte Artistinnen“ im Berliner Podewil – eine Theaterbiografie

Mit Boxerinnen und Dominas hat sich die Regisseurin Gudrun Herrbold in ihren letzten Projekten beschäftigt. Frauen also, die eine Klasse für sich darstellen, keine Leichtgewichte.

Mit Boxerinnen und Dominas hat sich die Regisseurin Gudrun Herrbold in ihren letzten Projekten beschäftigt. Frauen also, die eine Klasse für sich darstellen, keine Leichtgewichte. Der Theaterabend „4 Alte Artistinnen“, den sie zusammen mit Donald Becker konzipiert hat, erinnert jetzt an vergessene Karrieren und aussterbende Künste. Doch statt der angekündigten vier waren es nur noch drei. Im wenig glamourösen Podewil treten auf: die 84-jährige Käthe Denicke alias Katja Nick, die einzige Frau auf der Welt, die in drei Sprachen rückwärts sprechen und singen kann. Die Seiltänzerin Hildegard Frederick (73) aus der Seiltanz-Dynastie Eitner. Und Renate Böhmer (65), Vertikalseil- und Percheartistin der „Esperantos".

Die Damen haben viel erlebt und viel zu erzählen - doch sie schwelgen nicht in Artisten-Romantik. Ihre Karrieren fielen in die Zeit von Nazi-Deutschland, Kaltem Krieg und DDR. So berichten sie von Wehrmachtstourneen, Auftrittsverbot und Fluchtversuchen. Alle Drei gerieten ins Visier der Machthaber, ihr Leben ein politischer Drahtseilakt. Und ein Spagat zwischen bürgerlicher Existenz (mit den Fesseln eines Frauenlebens) und den Verlockungen des Artistenlebens.

Wo es um die Erzählung des eigenen Lebens geht, erweisen sich die ausgefuchsten Spezialistinnen als liebenswerte Dilettanten. Das macht den Charme des Aufführung aus. Es ist ein Abend der Monologe, jede der Damen beansprucht ihren eigenen Auftritt - mit Filmaufnahmen und Videos. Wahre Geschichten, die wie erfunden klingen. Eine der skurrilsten Episoden: Zum Ende des Jahres 1942 wurde Katja Nick in das Stadtpalais von Reichsaußenminister Ribbentrop bestellt - um ihm Neujahrsgrüße rückwärts auszurichten. Der Film zeigt sie im Kreis von Adjutanten mit Spickzetteln, bei einer Probe. Das Deutschland-Lied rückwärts vorzutragen, das ist von subersiver Komik - alles Propagandistische verkehrt und verflüchtigt sich ins Dadaistische.

Hunger auf Realität

Eine Form der Beziehungsakrobatik veranschaulicht die einstige Seiltänzerin Hildegard Frederick. Ihre Erzählung könnte auch lauten: So überlebte ich Horst Klein. Der war Trapezkünstler, wurde ihr Ehemann und Partner - und entpuppte sich als Alkoholiker. Sich auf komische Nummern zu verlegen, half nichts - es gab Berufsverbot. Endstation DDR. Die unglaubliche Geschichte, wie Horst Klein sich an einem Hochspannungsmast mit einem Seil über die Mauer hangelte, schildert Hildegard Frederick mit komischem Grimm. Nein, ihre Geschichte mit Horst Klein war damit noch lange nicht zu Ende, sie hält noch weitere Volten parat. Ihr Glück fand sie aber in zweiter Ehe mit einem Postangestellten.

Als sexy Squaw tritt die Percheartistin Renate Böhmer auf, sie überlebte mehrere Stürze sowie den Aufenthalt in einem berüchtigten sowjetischen Krankenhaus, wo ihr ständig Blut abgezapft wurde. Der Mann in Häuptlings-Federschmuck, der sie bei einem ihrer Stürze auffing, trägt ihr heute noch das Kosmetikköfferchen hinterher. Eine tragfähige Beziehung also – auch das ein Kunststück! „4 alte Artistinnen“ ist ein weiterer Theaterabend, der den Hunger nach Realität verrät. Doch das Regie-Duo beutet die Biografien nicht aus, zwingt ihnen keine Deutung auf. Fast wie erfunden wirken die Lebenwege, fast nicht inszeniert wirkt die Aufführung. Doch er wird zur Hommage an den Mut, Witz und Charme dieser Golden Girls. Sie selbst stilisieren sich nicht zu Abenteuerinnen, aber das sind sie gewiss: Überlebenskünstlerinnen. Sandra Luzina

Podewil, heute sowie am 23., 25. und 26. Juni

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