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Souvenirs. 2020 entstand das Mood board „Rosen / Männer im Profil / Irm Hermann / Margit Carstensen“.

© Galerie

Galerie Aurel Scheibler: Das Leben ist Material

Fan-Artikel und Bilder von Freunden: Der US-Künstler Jack Pierson präsentiert seine „Mood boards“.

„Mood boards“ nennt der amerikanische Künstler Jack Pierson seine jüngsten Arbeiten. Und genau so sehen die Bilder in der Berliner Galerie Aurel Scheibler aus – wie abfotografierte Mood boards, vertikale Materialsammlungen also, die für viele Kreative ein essenzielles Arbeitsmittel sind. Ein Zwischenschritt, aber eben kein Ergebnis ihrer Arbeit.

Bei Jack Pierson aber ist das anders. Hier sind das Resultat die Autogrammkarten der Fassbinder-Schauspielerinnen Irm Hermann und Margit Carstensen und des bei einem Flugzeugabsturz in Russland mit seinem ganzen Team ums Leben gekommenen Eishockeyspielers Robert Dietrich; die Ricky-Nelson-Poster oder das Robert-Altman-Filmplakat von „3 Femmes“, die Abbildung einer ägyptischen Pyramide im Gegenlicht, der graue Buchdeckel, die Fotografien von Piersons Lebensgefährten Jack in erotischer Pose und seiner Model-Muse Nathan wie auch das aus der „Vanity Fair“ gerissene Foto des Künstlerkollegen Bruce Nauman. Das Kunstwerk an sich existiert in Editionen von je drei oder fünf Exemplaren.

Was hinter seinen Mood boards steckt, will der Künstler nicht verraten

Was hat sich der 60-jährige Künstler dabei gedacht, welche Narrative hat er imaginiert, jenseits aller formalästhetischen Bezüge? Er verrät es nicht, nicht einmal seinem Galeristen. Nicht einmal anlässlich der achten gemeinsamen Ausstellung in 28 Jahren. Begonnen hatte die Zusammenarbeit mit Aurel Scheibler anlässlich einer Gruppenausstellung 1991 in Köln, in der Piersons Arbeiten zum ersten Mal überhaupt in Europa zu sehen waren. Die Künstler der „Boston School“ (of photography), die alle um das Jahr 1980 herum an der Bostoner Tufts University studierten – neben Jack Pierson waren das unter anderem Gail Thacker, Mark Morrisroe und Nan Goldin –, haben der noch gar nicht so lange vorher in den höchsten Sphären der Kunst angekommenen Fotografie neue Dimensionen erschlossen. 1971 hatte die Show von Stephen Shore im Metropolitan Museum als Erstes eine Tür geöffnet.

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Die „Boston School“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie das vermeintlich Banale, ihren Alltag und die Menschen, die darin vorkamen, ausstellte. Sie machten also das, was heute in Zeiten von Instagram & Co. alle machen, nur dass es jetzt keine Kunst mehr ist, weil es alle machen. So könnte man es sehen, ohne dadurch den kunsthistorischen Wert der Aufnahmen der Bostoner – die später natürlich alle nach New York gegangen sind – in Abrede zu stellen. In NYC lebten sie ja dann auch ein Leben, das zumindest in Sachen Sex und Drogen nicht ganz so banal war wie das der meisten anderen Menschen, damals und heute. Trotzdem müssen sie heute etwas anders machen als damals.

Das Bild seiner Muse Nathan hat Pierson vom Bildschirm abfotografiert

Jack Pierson macht also „Mood boards“ in der langen Tradition der Collage. Aber nicht nur. Eine Aufnahme des sehr jung aussehenden Nathan, auf der Bettkante sitzend, mit nacktem Oberkörper („Nathan at la Lousiane“), könnte auch von Larry Clark stammen, zumindest auf den ersten Blick. Für ein anderes Foto („Blue Screen“) hat Pierson offenbar ein Bild Nathans auf dem Computer abfotografiert.

Wer das schon einmal mit seinem Smartphone gemacht hat, hat sich vermutlich über den Moiré-Effekt, dieses Flimmern im Bild, geärgert. Hier sieht es sehr ästhetisch aus.

Überhaupt sind die hohen ästhetischen Ansprüche Piersons und seines Galeristen in der Ausstellung – und nicht nur in der Bildkomposition – unverkennbar. Bei den Bildern handelt es sich um mit hochpigmentierter Druckerfarbe gefertigte Archival Pigment Prints. Nichts glänzt, nichts reflektiert – auf Glas wurde bei den Rahmen mit einem Lackfinish in abgetöntem Weiß konsequent verzichtet.

Neben den Bildern sind der zwei Wortskulpturen zu sehen

Auch zwei Wortskulpturen aus gefundenen Buchstaben aus Plastik und Metall, wie sie etwa für die Beschriftung von Ladengeschäften verwendet werden – Jack Pierson verfügt über eine umfangreiche Sammlung solcher Lettern in seinen Lagern –, haben nicht zuletzt beachtliches dekoratives Potenzial. Es sind die einzigen Arbeiten der Schau, die nicht aus dem aktuellen, sondern bereits aus dem Jahr 2014 stammen. Sie sagen: „Qua Patet Orbis“. Und: „One Hopes“. Ob die Auswahl dieser Werke eine Referenz auf die Corona-Pandemie ist? „Das passt immer“, antwortet der Galerist.

[Galerie Aurel Scheibler, Schöneberger Ufer 71, bis 14. 11.; Di–Sa 11–18 Uhr.]

Ach, wie gerne man sie treffen würde. Aber es hat auch etwas für sich, wenn die Künstler gerade nicht mehr zu ihren Ausstellungseröffnungen in Übersee reisen können. Man wird gar nicht erst in Versuchung geführt, von der Umgänglichkeit eines Künstlers auf seine Kunst zu schließen.

Jens Müller

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