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Ganz OHR (1): Glockenrein, lächelnd

Christiane Peitz lauscht dem Mann im Wald, der im Regen Schubert singt

Das Gewitter kam schneller, als man laufen konnte. Eben noch der Caspar-DavidFriedrich-Blick von der Felsenkanzel auf das Elbtal, eben noch die wilde Naturschönheit der Sächsischen Schweiz samt Kanapee-Aussicht, Basteibrücke, Schwedenlöchern und Amselgrund. Aber dann raste eine schwarze Wolkenwand im Taifun-Tempo durch den Gruselmärchenwald, der Wind schrie, Blitze zuckten, Angst essen Wanderseele auf. Und plötzlich war das Gewitter wieder vorbei.

Fern rauscht der Regen, ein Klangteppich, der den Abstieg grundiert. Vom dichten Blattwerk tröpfelt es helle Triolen, der Buchfink schlägt an. Konzertierte Erleichterung: Der Wetterunhold ist weg, Flora und Fauna atmen auf, das ging nochmal gut. Ist das ein Kuckuck? Eine so saubere Terz kriegt der sonst doch nie hin. „Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n“, ich höre Stimmen, oh Schreck. Der Wald singt Schubert, das „Heidenröslein“, es ist ein Tenor, kaum zu glauben. Was ist das, ein Hörsturz, ein Wunder? Der Pfad schlängelt sich zwischen Farnen, Felsen und Bäumen nach unten, das Röslein kommt näher. „War so jung und war so schön/ Lief er schnell es nah zu seh’n.“ An der Weggabelung, steht ein Mann, schlank und sehr blond, er hält seinen Schirm fest über dem Kopf, weist den Wanderern mit der Rechten den Weg ins Dorf und singt Schubert dazu. Glockenrein, lächelnd. Als gehöre Schubert nirgendwo anders hin als mitten in den Wald und als sei das Kunstlied ein Naturereignis. „Sah’s mit vielen Freuden.“

Der iPod-Hörer von heute zieht in die Welt, nimmt seine Musik mit, ist ganz Ohr und weiß längst, dass sie dort am Schönsten sein kann, wo sie nicht hingehört. Noch schöner ist es, wenn sie einen hinterrücks erwischt und einfach schon da ist, dort, wo es einen hinzieht. Wenn sie sich frei macht von Konzertpodien, CD-Scheiben und MP3-Playern, von unserer Verfügungsgewalt über sie.

Den Mund kann man verschließen, die Augen zukneifen, nur die Ohren lassen sich nicht abschotten ohne Hilfe der Hände. Als Hörende sind wir schutzlos, Krach und Kakophonie allüberall. Vielleicht haben die Menschen im Zeitalter der virtuellen Reproduzierbarkeit die Wohlklänge deshalb immer weiter kanalisiert, medialisiert, privatisiert – und kriegen die hörbare Welt doch nicht in den Griff. Ein Phänomen, dem wir unsere kleine Sommerkolumnen-Serie widmen wollen. Entweder das Privatim mit Knopf im Ohr oder das Bad in der Open-Air-Menge – wir sind Extremhörer geworden. Der Sänger und die Wanderin, das ist die Ausnahme, die Überraschung, das sind zwei, ganz bei sich.

Auftakt unserer kleinen musikalischen Sommerserie. Nächste Woche: Andreas Schäfer über das Geheimnis der Menschen mit Knopf im Ohr.

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