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Ganz OHR (6): Schrei der Stille

Christine Lemke-Matwey verrät, was der Berg erzählt

Jetzt aber nichts wie hinaus und hinauf in die Stille. Schon reiben sich die Sterne müd’ die Äuglein, und hinter der Hochgebirgssilhouette spielen Mond und Sonne ihr altes Duell. In der Hütte klappert das Morgengeschirr, rasch eine Katzenwäsche in eisiger Gletscherluft, ein heißer Schluck Tee, ein Biss von irgendetwas, den Rucksack geschnürt – auf geht’s.

Draußen meint man das All raunen zu hören. Ein kosmisches Läuten, Lichtjahrtausende entfernt. Ein Dröhnen, eine Dichte, als hätte die Welt sich an sich selbst verschluckt. Ehrfürchtiges Lauschen. Sonst rührt sich nichts. Nichts? Wir machen uns auf den Weg. Wie Tigerzähne fassen die Steigeisen in den Firn, es knirscht und jault und kracht, als würden Knochen splittern. Jeder Schritt krach! knirsch! eine Kriegserklärung, das Eis wehrt sich und hat keine Chance.

Ein erster Sonnenstrahl kriecht den Grat entlang, steckt die Schnee-Arena in ein gleißendes Paillettenkleid. Schwer geht der eigene Atem, man schwitzt und ächzt und müht und plagt sich und ist sich eigentlich nur selbst der nächste. Je schöner die Natur schweigt, desto größer das Aufhebens, das der Mensch um sich macht. Prompt hat die italienische Seilschaft, die sich von der anderen Seite her nähert, noch Lunge und Luft zum Singen. O Santa Cecilia.

Oben auf dem Gipfel herrschen andere Mächte, wie so oft. Der Wind pfeift aus allen Richtungen, brüllt, tobt, hält inne, dreht einem jedes ohnehin überflüssige Wort im Mund herum. Und plötzlich weiß man den Lärm von der Stille, die Ruhe vom größten Sturm nicht mehr zu unterscheiden. Demütig treten wir den Abstieg, das Grün des Tals 2800 Meter unter uns grüßt wie ein Pistazienpraliné.

Anstelle der Steigeisen tun es jetzt Schneeschuhe, der vorgerückten Tageszeit halber und des weichen Schnees. Und als hätten wir tatsächlich etwas fürs Leben gelernt, macht es unter unseren Füßen nicht mehr knirsch! und nicht mehr krach!, sondern nur friedlich pffft! und schmatz! Der Gletscher, der wie ein Walfisch bergab fließt, mit türkisfarben aufgerissenem Riesenmaul, kommt ins Reden: Erst knackt und gurgelt es leise in seinen Spalten und Eingeweiden, dann, unterhalb des Bruchs, sprudelt und schwillt und rauscht es, bald ohrenbetäubend, schreiend, Himmel und Hölle beschwörend und das jüngste Gericht gleich mit.

Fontänen schießen empor, Steinschläge poltern, ein mächtiger Wasserfall donnert schließlich gen Tal, gräbt sich Schluchten und Fluchten. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis? Was der Mensch dem Berg zumutet, spült dieses Wasser seit Jahrtausenden wieder hinunter. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Alles Wüten dieser Welt. Für das winzige Restchen Stille da droben.

Bisher sind in unserer Sommerserie erschienen: Christiane Peitz über Schubert im Regen (13. 7,), Andreas Schäfer über Kopfhörer (22. 7.) Nadine Lange über Balkan-Pop im Kino (29. 7.), Frederik Hanssen über eine Wanderkapelle (10. 8.), Jan Schulz-Ojala über eine Uhr im Flur (12. 8.)

Christine Lemke-Matwey

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