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Kultur: Ganz seriöse Anarchie

Dreimal volles Haus: das Berliner Chorfestival Tenso 2006 startet verheißungsvoll

Von der gegenwärtigen Situations- und Problembeschreibung der Chormusik, so entnehmen wir dem Programmheft, sollen die Tenso Days künden. Also nicht irgendein Chorfestival, ach was, einen Ort des Diskurses will man schaffen. Und die Plattform dafür heißt Tenso, ein internationales Netzwerk professioneller Chöre, 2004 auf Initiative des französischen Kammerchors Accentus gegründet. Der Name ist der südfranzösischen Troubadourtradition entlehnt: Tenso bedeutet Kommunikation, Miteinander.

Zum ersten Mal fand das Festival nun am vergangenen Wochenende in Berlin, im nagelneuen Radialsystem V, statt. Neben drei bestens besuchten Konzerten bot Tenso 2006 Einführungen, Proben, Vorträge und natürlich eine Podiumsdiskussion. Dazu einen Raum des Wissens, vom musikwissenschaftlichen Zweig der TU gestaltet. Hier konnte man mittels interaktiver Computerpräsentationen einiges über das menschliche Sprachorgan, Stimmklangsynthese, experimentelle Sprachkomposition, aber auch über Hip-Hop und den perfekten Hit erfahren.

Wer nun allerdings von den Konzerten eine stringente künstlerische Begehung dieser Themenkomplexe erwartete, wurde eher enttäuscht.Geboten wurde meist schöne, auf höchstem Niveau vorgetragene moderne Chormusik, nicht mehr und nicht weniger. Wobei es der französische Accentus Chor am Eröffnungsabend sicher gut meinte, ein großes Werk aus deutscher Feder an den Anfang zu stellen. Daraus wurde aber leider ein veritabler Fehlstart. Denn Wolfgangs Rihms endloses Opus „Astralis“ nach Novalis betäubte in seiner Spannungslosigkeit. Ein recht unglücklich vorgetragener Solovioloncellopart sorgte zudem nicht für Kontrast, sondern buchstäblich für Verstimmung. Überzeugend allerdings hier bereits der Chor mit einem äußerst seidigen, eher zurückhaltenden Klang, discrétion à la française auf höchstem Niveau.

Knallbunt dann Mauro Lanzas „I Funerali dell’Anarchico Passannante“, ein Werk mit Liveelektronik, das der junge italienische Komponist als fiktive Begräbnismusik für den Anarchisten Giovanni Passannante komponiert hat. Lanza beruft sich auf in seiner Heimat anzutreffende, aus dem Ruder laufende Begräbnisfarcen. Dem Chor lässt er mit allerlei Spielkram sowie allen nur denkbaren Stimmgeräuschen einen äußerst präzise rhythmisierten Klangschwarm obskurster Art angedeihen. Hinzu treten seltsamste, aber lustige elektronische Klänge voller teils recht unappetitlicher Assoziationen. Sicher, der Humor Lanzas ist nicht so anarchistisch, wie der von Fluxus es mal war, alles ist hier genau berechnet, will seriöse Komposition sein.

Das Stück zeigt aber doch eindrucksvoll, dass die auch politische Idee vom Chor als außer Rand und Band geratene Menschenmasse immer noch fruchtbar für neue Chormusik sein kann. Das findet sicher auch Juris Abols, der in dem Ruf steht, der einzige lettische Dadaist zu sein. Womit er sich in etwa so fühlen dürfte, wie ein Eskimo in Afrika. Was Abols aus Hugo Balls Dada-Schlüsseltext „Karawane“ macht, gleicht einem bunten Zoo von Rufen, Schnalzen, Jauchzen und allerlei anderen Lauten, ein imaginäres Zwiegespräch zwischen Mensch und Tier. Der „Latvijas Radio Koris“ aus Riga sorgt mit seiner ungemein klaren Wiedergabe des Stücks für Begeisterung, kann vorher schon mit den beängstigend klangintensiven „Tre canti sacri“ von Giacinto Scelsi das Publikum auf seine Seite ziehen: Festivalstimmung plus Zugabe.

Nicht neue, bislang unbekannte Strömungen in der Chormusik waren an diesem Wochenende auszumachen, eher ein gedeihliches Arbeiten an schon eingeschlagenen Wegen. So konnte die junge lettische Komponistin Gundega Šmite in ihrem Stück nach García Lorca ein altes Thema, nämlich die mehrschichtige Gestaltung verschiedener Sprachelemente im Chorsatz, überzeugend mit einem neuen Beitrag bereichern. Ebenso der Kanadier Brian Cherney, dessen „Niemandsrose“ nach Celan der Rias Kammerchor zum Abschluss des Festivals uraufführte. Cherney vermischt sensibel Sprechgesang mit isolierten Silbenlauten und wunderschön gesungenen melodischen Elementen und erzeugt damit eine Poetik zwischen den Welten.

Übrigens war durchgehend spürbar, dass das Radialsystem V als passender Ort für derlei Veranstaltungen bereits bestens angenommen wird. Das neue Kulturzentrum am Ostbahnhof hat das Zeug zum Veranstaltermagnet. Das Ultraschall Festival setzt den Reigen im Januar fort.

Ulrich Pollmann

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