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Kultur: Gattungswesen

SCHREIBWAREN Jörg Plath will wissen, wie man „gesellschaftlich“ denkt Die Lesungstermine dünnen sich saisonbedingt etwas aus, und gleich dreht sich alles in dieser Woche um bedrohte Spezies. Auf Platz 1 der Roten Liste stehen, jedenfalls in Berlin, die Studenten.

SCHREIBWAREN

Jörg Plath will wissen,

wie man „gesellschaftlich“ denkt

Die Lesungstermine dünnen sich saisonbedingt etwas aus, und gleich dreht sich alles in dieser Woche um bedrohte Spezies. Auf Platz 1 der Roten Liste stehen, jedenfalls in Berlin, die Studenten. Die Universitäten der Hauptstadt haben nämlich angekündigt, keine neuen Exemplare mehr aufzunehmen, um die radikalen Sparvorschläge des Finanz und des Kultursenators abzuwehren. Wie anders war die Stimmung nach dem letzten Krieg. Geld gab es damals auch keines, aber Hoffnung – und Erleichterung. Die Humboldt Universität nahm den Lehrbetrieb wieder auf und blieb vom Kalten Krieg nicht verschont. Schon bald zogen einige Studenten und Professoren in den Westen Berlins, um dort die Freie Universität zu gründen. Dieter Meichsner erzählt in seinem Roman „Die Studenten von Berlin“ (Schöffling & Co.) von jungen Menschen, die den Krieg behütet oder als Deserteur, als fanatische Kämpfer oder im Widerstand, mit und ohne Eltern überlebt haben. Einer von ihnen glaubt noch immer an den Endsieg. Meichsner liest am 18. Juni um 18 Uhr im Senatssaal der Humboldt Universität aus seiner Romanchronik.

Um die menschliche Gattung, gegenwärtig mit mehr als 5 Millionen Exemplaren die Erde bewimmelnd, muss einem nicht bange sein. Allerdings um kleinere Völker und um Sonderexemplare wie jenen Menschen, der sich nach einem Schiffbruch mit einer Hyäne, einem Zebra, Orang Utan und bengalischen Tiger auf einem Rettungsboot wiederfindet. Auf der neuzeitlichen Arche Noah, von der der Kanadier Yann Martel erzählt, wird es bald viel geräumiger, und dann stehen sich zwei Schöpfungen Gottes Aug in Aug gegenüber... Yann Martel liest am 18.6. im Kulturkaufhaus Dussmann (18 Uhr) aus seinem Meereskammerspiel mit letzten Fragen „Schiffbruch mit Tiger“ (S. Fischer).

Echte Mauerspringer waren selten, gehörten sie doch zu einer eminent bedrohten Spezies. Emine Sevgi Özdamar war eine von ihnen. Sie schildert in ihrem autobiografischen Bericht „Seltsame Sterne starren zur Erde“ (Kiepenheuer & Witsch), wie sie 1976 aus Istanbul nach Berlin kommt, um Theater zu spielen. Schönere Schilderungen aus Westberliner Wohngemeinschaften finden sich selten, zumal die junge türkische Schauspielerin unbedingt Brecht spielen will und dafür in den Osten zu Benno Besson und Heiner Müller fährt. Die bundesdeutsche Wohn- und Gefühlskultur der Studenten und die deutsch-demokraktische Arbeits- und Gefühlskultur an der Volksbühne reiben sich prächtig aneinander, zumal die schönen Augen der Erzählerin auf beiden Seiten der Mauer begeisterte Bewunderer finden. Özdamar lässt, wenn sie am 19.6. um 21 Uhr im Buchhändlerkeller liest, den Überschwang der Siebzigerjahre in West- und Ost-Berlin wieder auferstehen.

Um die Adorniten, Abkömmlinge eines einst überaus zahlreichen Wissenschafts- und Feuilletonstammes, ist es ruhiger geworden. Die Strenge, mit der Theodor W. Adorno dekretierte, es gebe kein wahres Leben im Falschen, begeistert heute nur noch Hard- Core-Protestanten, und manche Denkfiguren der Negativität haben durch gedankenlose Wiederholung ihren Stachel verloren. Am 11.9. hätte der wohl einflussreichste Philosoph der Bundesrepublik seinen 100. Geburtstag gefeiert, und mindestens drei Verlage kündigen Biografien über ihn an. Allen voran widmet sich am 21. und 22.6. schon mal eine kleine Tagung im Literaturhaus seinem Werk (11-18 Uhr, Tel. 887 28 60). Am Abend des 21.6. um 20 Uhr diskutieren die Wissenschaftler über die Frage „Was heißt heute gesellschaftlich denken?“, während es am 22. Juni um 19.30 Uhr in der Universität der Künste (Fasanenstraße 1 b) Lieder und Texte von Theodor. W. Adorno und Zeitgenossen zu hören gibt.

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