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© Thomas Flierl

Gdynia, Polen: Korridor der Moderne

Die polnische Hafenstadt Gdynia, unweit von Danzig, entdeckt ihre architektonischen Qualitäten als Stadt der Moderne. Thomas Flierl, ehemaliger Kultursenator Berlins und heutiger stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Linken, erklärt warum.

Wer aus Berlin kommt, hat ein Gespür für die politische, soziale und kulturelle Topografie von Teilungen. Wer die Verschränkung der Moderne und ihrer Gegenströmungen im 20. Jahrhundert in Berlin betrachtet, muss umso faszinierter sein, wenn er das vormoderne und nach totalem Kriegsverlust rekonstruierte Stadtzentrum von Danzig/Gdansk und die Kontinuität des modernen Gdynia/Gdingen unmittelbar nebeneinander existieren sieht.

Voller Selbstbewusstsein präsentiert sich Gdynia heute als Manifestation der polnischen Zwischenkriegsmoderne. Bereits zum zweiten Mal veranstaltete die Stadt ein Symposium zum Thema „Modernismus in Europa – Modernismus in Gdynia“. Es gibt in Europa viele Bauten der Moderne, Siedlungen, Stadtteile oder Städte neben bereits bestehenden, nirgends aber eine so kompakte Stadt der Moderne als Neugründung.

"polnische Hauptstadt des Meeres“

Die weiße Stadt am Meer entstand als Ergebnis des Ersten Weltkrieges. 1772 mit der ersten polnischen Teilung zu Preußen gekommen, war Gdingen ein Fischerdorf. Traditionell lebten in dem Gebiet Deutsche, Polen, Kaschuben und auch eine recht starke jüdische Minderheit. Der Versailler Vertrag bestimmte die Abtretung westpreußischer Gebiete an das 1918 unabhängig gewordene Polen und die Schaffung eines Zugangs Polens zur Ostsee, den 1920 errichteten sogenannten polnischen Korridor, dessen Gebiete die Woiwodschaft Pommern bildeten.

Nachdem sich 1920, während des polnisch-sowjetischen Krieges, kommunistische Hafenarbeiter weigerten, Waffen aus England, die für die polnische Armee bestimmt waren, zu entladen, galt der Danziger Hafen für Polen als nicht mehr sicher. So beschloss das Land den Bau eines eigenen Hafens an der Ostsee. Gdynia erhielt 1926 Stadtrecht und die Bevölkerung wuchs im Zuge des Ausbaus der „polnischen Hauptstadt des Meeres“ von wenigen Tausenden auf 120 000 Einwohner (1938). Die polnische Marine, eine beträchtliche Fischfangflotte und zuletzt sieben stolze Übersee-Passagierliner waren im Hafen von Gdynia stationiert. Eine neu angelegte Eisenbahnstrecke verband Gdynia mit dem Industrierevier im ebenfalls abgetrennten polnischen Teil Oberschlesiens um Kattowitz (Katowice), sie ermöglichte den Export oberschlesischer Kohle.

Absoluter Vorrang: die Anlage des Hafens

Für Gdynia musste die städtische Struktur völlig neu entwickelt werden. Die Ausarbeitung eines Generalplans scheiterte am absoluten Vorrang der Anlage und des Ausbaus des Hafens. Auch die Planung für ein repräsentatives, zum Meer hin ausgerichtetes Zentrum blieb unvollendet. Die ersten Wohnhäuser ab 1920 waren Ferienhäuser begüterter Warschauer auf dem Steinberg, die von Warschauer Architekten als Gartenstadt-Siedlung angelegt, einen polnischen Heimatstil präsentieren, der sich auch noch im 1923 bis 1926 von Romuald Miller erbauten Bahnhof zeigt.

Der städtische Wohnungsbau setzte erst ab 1926 ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Stadt bereits mit „wilden“ Barackensiedlungen zu kämpfen. Verschiedene Baugenossenschaften und eine in ganz Polen tätige Versicherungsgesellschaft traten nun auf den Plan, deren Entwürfe unter anderen von renommierten Architekten der Warschauer Avantgarde stammten.

Robuster linear gerasterter Stadtgrundriss

Da es darum ging, der Stadt ein Zentrum zu geben, waren nicht die Wohnsiedlungen das charakteristische Element, sondern innerstädtische Wohn- und Geschäftshäuser privater Bauherren auf einem robusten linear gerasterten Stadtgrundriss. „Durch die enge Verbindung mit der Warschauer Architekturszene setzte sich in Gdingen das Neue Bauen rasch durch und wurde zum Kennzeichen der modernen Meeresmetropole – das ‚weiße’ Gdingen hob sich als Symbol des modernen polnischen Staats von der ‚preußischen’ Backsteinarchitektur des Umlands ab.“ Im benachbarten Danzig wurde dagegen „explizit am Bild einer historischen ‚deutschen’ Stadt festgehalten“, wie Beate Störtkuhl in dem Buch „Wohnen in der Großstadt 1990–1939“ schreibt.

Als Nazi-Deutschland vor siebzig Jahren Polen überfiel und annektierte, benannte es den Hafen und die dazugehörige Stadt in „Gotenhafen“ um und nutzte den Hafen als Marinestützpunkt und für die Reparatur ihrer Kriegsschiffe. Die völkische Namensschöpfung erinnerte an das ehemalige Siedlungsgebiet der Goten im Bereich der Weichsel. Die polnische Bevölkerung der Stadt sollte zwangsweise umgesiedelt und durch Deutsche ersetzt werden. Allein im Oktober 1939 wurden rund 38.000 Menschen deportiert – nach Posen und Umgebung, nach Kielce und Warschau. Nördlich des Hafens hatte die Luftwaffe eine Basis und betrieb von 1942 bis 1945 im Meer eine Torpedotestanlage. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Gotenhafen einer der wichtigsten Evakuierungshäfen. Von den Alliierten mehrmals bombardiert, sprengten die Deutschen vor ihrem Abzug, was noch intakt war. Um den Vormarsch der Roten Armee zu erschweren, wurde zuletzt noch in der Hafeneinfahrt das Schlachtschiff „Gneisenau“ versenkt.

Die moderne Haltung setzte sich fort.

Anders als sonst in Westpolen war der Wiederaufbau Gdynias der Wiederaufbau einer polnischen Stadt, einer Stadt der Moderne. Viele Architekten Gdynias bauten auch nach dem Krieg, die moderne Haltung setzte sich fort. Allein die realsozialistischen Plattenbauten der späten 70er Jahren in den Vorstädten zeigen brutalistische Dimensionen aber keinen Leerstand. Gdynia hat heute 250 000 Einwohner.

Im Jahre 2007 wurde das Stadtzentrum von Gdynia als Denkmalbereich ausgewiesen, mit staatlicher Unterstützung sanieren Hauseigentümer ihre Bauten. Deutsche Denkmalpflege würde vieles besser machen wollen. Aber bemerkenswert ist doch: Das postkommunistische Polen kann sich in der Zwischenkriegsmoderne wiedererkennen, mittlerweile wird in Gdynia darüber diskutiert, was Kriterien für eine Unterschutzstellung und Sanierung der Nachkriegsarchitektur wären. Vorher mussten aber polnische Finanzinvestoren am Hafen ein Zeichen der Ankunft der Postmoderne setzen: ein autistisches Wohnhochhaus mit weitgehend leer stehenden Luxuswohnungen überragt ohne städtebaulichen Bezug den Hafen und die weiße Stadt.

Ein Versprechen auf Zukunft ohne bestimmbaren Inhalt. Dabei trägt Gdynia selbst die Botschaft in sich: Europa kann nur das Projekt einer kritisch-reflektierten und also „unvollendeten“ Moderne sein. Zweifellos auch eine Lektion für Berlin.

Thomas Flierl war Kultursenator in Berlin und ist heute Publizist und stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Linken.

Thomas Flierl

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