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Liu Xiaobo und seine Witwe Liu Xia: Gedenken an den chinesischen Friedensnobelpreisträger in Berlin

© dpa/Wolfgang Kumm

Gedenken an Liu Xiaobo in Berlin: "Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass"

Politik, Religion und Emotion: In der Berliner Gethsemanekirche wurde des chinesischen Bürgerrechtlers Liu Xiaobo gedacht. Seine gerade freigelassene Witwe Liu Xia war nicht dabei.

Von Gregor Dotzauer

Sie selbst blieb dem Gottesdienst dann doch fern. Die Dichterin Liu Xia, die das Gedenken an ihren vor einem Jahr in Gefangenschaft verstorbenen Mann, den chinesischen Bürgerrechtler Liu Xiaobo, in eine Dankesfeier für ihre eigene Entlassung aus acht Jahren Pekinger Hausarrest verwandelt hätte, erholte sich in ihrem neuen Berliner Zuhause. Selbst bei besserer Konstitution hätte sie die anderthalb Stunden in der Berliner Gethsemanekirche aber wohl wie ein zweites Begräbnis erlebt. Pfarrer Roland Kühne erinnerte im Namen eines Gottes, „den das Schicksal jedes einzelnen Menschen jeden einzelnen Augenblick unendlich bewegt“, wie Liu Xiaobo „aus unserer Gemeinschaft gerissen“ wurde. Und dass Isabel Schrodka später mit „Donna Donna“ jene jiddische Melodie anstimmte, die ihr Liao Yiwu vor wenigen Monaten in ihrer tiefsten Verzweiflung am Telefon vorgespielt hatte, wäre ihr nicht weniger nahegegangen. In den Refrain des von Joan Baez zum Welthit gemachten Songs stimmte die ganze Kirche ein.

So erschien sie nur auf Fotoprojektionen zusammen mit Liu Xiaobo, und mit der winzigen Büste ihres Mannes an der Wange, die man ihr nach der Ankunft in Deutschland überreicht hatte. Und sie kam als Dichterin zu Wort: Herta Müller las einige ihrer Gedichte, „unausweichlich poetisch, unausweichlich dokumentarisch“, wie sie sagte, eine „Mischung aus Eisen und Seide“.

Tienchi Martin-Liao, aus der Volksrepublik stammende Vorsitzende des taiwanischen PEN und deutsche Herausgeberin von Liu Xiaobos Schriften „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“, ehrte einen „rebellischen Menschen“, der mit der Charta 08 doch nur ein „mildes politisches Memorandum“ verfasst habe. In den Augen des kommunistischen Staats enthielt das Plädoyer für Meinungs- und Religionsfreiheit so viel umstürzlerisches Potenzial, dass es ihm den fünften und letzten seiner Gefängnisaufenthalte, einen davon in einem Umerziehungslager, einbrachte.

Ausharren im eigenen Land

Wer war dieser 2010 in Abwesenheit mit dem Friedensnobelpreis gewürdigte Liu Xiaobo? Pulitzer-Preisträger Ian Johnson, der mit „The Souls of China“ zuletzt ein Buch über die Rückkehr der Religion nach Mao geschrieben hat, trug seinen in der „New York Review of Books“ erschienenen Nachruf „The Man Who Stayed“ auf Deutsch vor. Er vergleicht Liu darin mit dem Reformer Tan Sitong, einem Protagonisten der gescheiterten Hundert- Tage-Reform im kaiserlichen China des Jahres 1898. Mit 33 Jahren wurde er enthauptet. Johnson zeichnet das unsentimentale Porträt eines Mannes, der, weil er wie Tan um seine geschichtliche Stellung wusste, jede Gelegenheit ausschlug, sein Land zu verlassen. Schon 1989 war er von der Columbia University nach Peking gekommen, um den Studenten auf dem Tiananmen-Platz beizustehen.

Für das große Pathos sorgte dafür Wolf Biermann. Neben seiner unverwüstlichen „Ermutigung“ („Du, lass dich nicht verhärten“) sang er „Im wunderschönen Monat Mai“, das Totenlied für seinen Freund, den 1999 verstorbenen DDR-Dissidenten Jürgen Fuchs. An Liao Yiwu gewandt, wusste er allerdings nicht mehr so genau, zu wessen Liaos oder Lius Gedenken er angetreten war: „Wie heißt er noch, euer Nobelpreisträger?“

Vielleicht war das der Moment, in dem es hilfreich gewesen wäre, Politik, Religion, Emotion und Moral besser auseinanderzuhalten. Ein Nebeneinander, das auch durch die Zusammensetzung des Publikums zwischen Alt-Bundespräsident Joachim Gauck, dem Berliner Propst Christian Stäblein und Hieh Jhy-Wey, Taiwans Vertreter in Berlin, abgebildet wurde. Immerhin steckte in der Idee, einen Gottesdienst für Liu Xiaobo auszurichten, nicht nur kirchliche Vereinnahmung. Er war zwar nicht gläubig, beschäftigte sich aber intensiv mit Hans Küng und Dietrich Bonhoeffer. Die Bochumer Sinologin Christine Moll-Murata hat insbesondere Lius Lektüre von Bonhoeffers „Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft“ untersucht. Liu zog daraus den identifikatorischen Schluss: „Bonhoeffer, der im Konzentrationslager gestorben ist, hat sich freiwillig in die Hölle begeben, aber in der Hölle auf Erden das Paradies des Glaubens erreicht.“ Dennoch geht die Gleichung Bonhoeffer gleich Fuchs gleich Liu nicht auf. Wer für universale Menschenrechte eintritt, kommt ohne Rücksicht auf historische Umstände und kulturelle Differenz nicht aus.

Vor dem Segen, sang man Peter Janssens Lied „Der Himmel geht über allen auf“. Zumindest die Chinesen werden verstanden haben, dass in diesem unschuldigen Wunsch die denkbar schärfste Kritik am wiederbelebten Konzept des tianxia, des „Alles, was unter dem Himmel ist“ lag. Der an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften lehrende Philosoph Zhao Tingyang hat diesem vor rund 3000 Jahren während der Zhou-Dynastie zu einer ersten Blüte gelangten Weltentwurf eines imperialen Reichs der Mitte seine moderne, doch nach wie vor hierarchische Gestalt gegeben.

Das China unter Xi Jinping hat ihn dankbar aufgegriffen und zu einer menschheitlichen Vision ausgebaut. Damit verbindet sich auch ein anderer Begriff von Menschenrechten. 2007 veröffentlichte Zhao einen Aufsatz über „eine nicht-westliche Theorie universaler Menschenrechte“, in der er sich gegen die Idee einer selbstzerstörerischen Gleichheit wendet. Es könne, argumentiert er, keinen Vorschuss auf Rechte ohne Gegenleistung geben. Dies widerspricht unserem Verständnis fundamental. Gerade deshalb führt kein Weg daran vorbei, sich mit diesem Denken auseinanderzusetzen.

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