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Der 1982 geborene Dichter Paul-Henri Campbell.

© Verlag das Wunderhorn

Gedichte von Paul-Henri Campbell: Versehrte Körper, warme Atolle

„Innere Organe“: Gedichte des deutsch-amerikanischen Lyrikers und Theologen Paul-Henri Campbell.

Ein bewunderter Meisterdenker der Ästhetik hat einmal behauptet, dass in einem Gedicht nicht nur „Trübsinn und Schwermut“, sondern auch „die schnell vorüberfahrenden Blitze sorgloser Heiterkeiten und Scherze“ Platz finden, dass es aber letztlich nur auf „die Seele der Empfindung“ ankomme. Diese Definition des Weltgeist-Philosophen Hegel haben etliche Generationen von Lyriktheoretikern nachgebetet.

Zwei Jahrhunderte nach Hegel will nun der deutsch-amerikanische Dichter und streitbare Theologe Paul-Henri Campbell die hehren Vorstellungen vom Gedicht entrümpeln und trübsinnige Reflexion verscheuchen, und zwar zugunsten von Ritual, Beschwörung und Litanei. Statt zarter „Seelenarbeit“ propagiert Campbell in seinem neuen Gedichtbuch „Innere Organe“ eine sinnliche Poesie des Körpers, Dichtung als somatische Kunst.

Paul-Henri Campbell, der 1982 geboren wurde, gehört zum kleinen Kreis der Dichter, die auf Augenhöhe mit dem Tod schreiben. Seit seiner Geburt laboriert der Autor an einem schweren Herzfehler. Seinem aufregenden Gedichtbuch „nach den narkosen“, das 2017 veröffentlicht wurde, hatte er bereits einen Essay über die „Salutonormativität“ der Gesunden und die existenzielle Ausgesetztheit der Kranken hinzugefügt.

Schlohweißes steinernes Schnäbeln

In sieben Zyklen erprobt Campbell nun in diesem neuen Band (Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2022. 80 Seiten, 22 €.) das Gedicht als polylingualen Sprachkörper. Das Buch setzt ein mit Betrachtungen zum versehrten Leib, auf dem die „spur des skalpells“ etliche Narben hinterlassen hat. Im zweiten Kapitel demonstrieren die weit ausschweifenden Litaneien zur Lunge oder der Milz die Lust des Autors am entfesselten Sprachspiel.

Aber auch finstere Visionen einer omnipräsenten Pandemie sind präsent: „…siechenjahre // und straßen durchgeistert sind von starren schnabelmasken / kreideweißes schlohweißes steinernes schnäbeln / das alles erwürgt hinwürgt & erdrosselt…“.

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Im „luftbrücken“-Zyklus, der um einige geschichtsträchtige Orte in Frankfurt am Main kreist, versucht Paul-Henri Campbell dann einen experimentellen Grenzgang zwischen den Sprachen: eine hochkomische Montage aus deutschem und englischem Vokabular. Das Spiel mit der schon von Mark Twain ironisierten „awful german language“ bringt hier ein anmutiges „kauderwelsh“ hervor: „i wandered einsam as a wölkchen.“

In eine dezidiert politische Richtung weisen die letzten beiden Zyklen des Bandes. Die „re:aktor poems“ bilanzieren in grellen Momentaufnahmen die atomaren Desaster von Tschernobyl 1986 bis Fukushima 2011. Den Reaktorunfall im US-amerikanischen Harrisburg im März 1979 verwandelt Campbell im Gedicht „three mile island“ in eine historische Szene von deutschen Auswanderern.

Sie kamen im 18. Jahrhundert auf der Suche nach dem neuen Jerusalem nach Pennsylvania und sprachen dort einen eigenen Dialekt, das „Pennsylvania Dutch“: „& unten am fluss da knarrt das miehlraad schaufelnd im strom“.

Am Ende des Bandes ruft der Zyklus „warme atolle“ die verheerenden Atombomben-Tests auf den Marshall-Inseln im Pazifik in Erinnerung, die dort zwischen 1946 und 1962 die Lebenswelt der Inselbewohner verwüsteten. Was als Expedition in den versehrten Körper begann, endet nun im Horror-Bild der Apokalypse: „…wie / sektkorken steigt im sog / von wolkenschleiern der atompilz / ins tropische tohuwabohu“.

Diese Gedichte des „atolle“-Zyklus antizipieren beklemmende das Szenario der drohenden atomaren Eskalation, vor dem die Welt seit der Rückkehr des Krieges nach Europa steht.

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