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Der französische Dichter Philippe Jaccottet.

© Sophie Bassouls/Imago

Gedichte von Philippe Jaccottet: Im Nebel wühlen

Der Gedichtband „Gedanken unter den Wolken“ des 92-jährigen Philippe Jaccottet erscheint erstmals auf Deutsch.

Übersetzen kann man aus zweierlei“, sagt der Dichter und Übersetzer Philippe Jaccottet in einem Interview, „aus dem Gelebten und aus dem Text.“ Im ersten Fall entsteht Poesie, im zweiten ein Text in einer anderen Sprache. Beides hat der aus der französischsprachigen Schweiz stammende, seit Jahrzehnten in Frankreich lebende Autor intensiv praktiziert. Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ verdankt ihm die Pariser Geburt, und wer die langwierige Arbeit an diesem Riesentorso nicht scheute, wird sich, was das eigene Schreiben angeht, mit umso größerer Lust und Geduld den kleinen Formen zuwenden: Notizen, Aufzeichnungen und Gedichten. Jaccottets Bücher sind schmal und wirken lange nach.

Ein deutscher Autor hätte wohl Hemmungen, seine Gedichte als „Gedanken unter den Wolken“ herauszugeben: zu abstrakt, zu fern. Im Französischen knüpfen die „Pensées“ des Titels sofort die Verbindung zu Pascal, dessen Texte von religiösen Erfahrungen sprechen, also von dem, was die Wolken übersteigt. Jaccottet bleibt im Menschlich-Irdischen, seine Poesie stellt das Alltägliche, Übersehene ins Licht, das dennoch über sich hinausweist. „Nachsinnen“ ist ein schönes, altmodisches Wort für diese Art der Betrachtung, die Ruhe fordert, aber auch erzeugt. Sie beginnt mit einer Wahrnehmung, die ihrer selbst noch nicht gewiss ist: „Ich bin wie einer, der im Nebel wühlt, / suchend nach allem, was den Nebel flieht, / denn ein Stück weiter vorn hört man Schritte / und zwischen Vorübergehenden gesprochene Worte …“

Blick zurück ohne Illusionen

Offen liegt das Ziel vor Augen und führt doch ins Geheimnis. So wie das Wasser, das wir täglich nutzen, ohne seinen mythischen Hintergrund zu beachten: „Jemand webt Wasser (mit Baummotiven / in Filigran). Doch wie ich auch schaue, / ich sehe nicht die Weberin, / nicht ihre Hände, hätte sie gerne berührt. // Ist alles, Zimmer, Webstuhl und Stoff, / dann verdunstet, / erkennt man vielleicht eine Fußspur im feuchten Sand …“ Foucaults berühmtes Bild klingt an, doch sehr viel zögernder.

„Gedanken unter den Wolken“ erschien 1983, wurde aber noch nie ins Deutsche übertragen. Die Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz betonen im Nachwort den sorgfältig durchkomponierten Charakter des Werks, das einzelne Motive in verschiedenen Kapiteln bearbeitet. Es blieb bis heute Jaccottets letzter Gedichtband. Inzwischen ist sein Autor 92 Jahre alt und schaut ohne Illusionen auf Leben und Zeit zurück. In Frankreich zum Klassiker erhoben, bleibt er der Bescheidenheit treu: „Ich gehe vorüber, staune, und mehr sagen kann ich nicht.“

Philippe Jaccottet: Gedanken unter den Wolken. Gedichte. Französisch / Deutsch. Übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 126 Seiten, 20 €.

Gisela Trahms

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