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Kultur: Gefährliche Gelbfärbung

Die Neugeborenen- Gelbsucht führt immer häufiger zu schweren Gesundheitsschäden

Die Geburt des eigenen Kindes gehört für viele Eltern zu den überwältigendsten Ereignissen ihres Lebens. Vorbei sind die Zeiten, in denen Männer nervös auf Krankenhausfluren auf und ab trippeln, bis Hebammen die erlösende Botschaft überbringen. Vorbei auch die Zeiten, in denen Kreißsäle einen sterilen Charme verströmen. Viele Krankenhäuser bieten für die ersten Tage nach der Geburt sogar Familienzimmer an. Sie sind beliebt, weil Mütter und Väter im Umgang mit Neugeborenen häufig zunächst unsicher sind. Doch selbst nach Erstgeburten zieht es junge Eltern zunehmend früher nach Hause.

„Vor etwa 20 Jahren haben Mütter das Krankenhaus selbst bei komplikationslosen Entbindungen erst nach etwa sieben Tagen verlassen“, erläutert Monika Berns, Oberärztin der Neonatologie an den Charité-Standorten Benjamin Franklin und Virchow. Inzwischen seien Aufenthalte von zwei bis drei Tagen die Regel, bei ambulanten Entbindungen blieben Mutter und Kind sogar nur wenige Stunden. „Diese Entwicklung ist im Prinzip positiv“, sagt die 38-Jährige.

Doch ausgerechnet dieser Fortschritt in der Geburtsmedizin leistet der Verbreitung einer Krankheit Vorschub, die in Deutschland seit 25 Jahren als überwunden gilt: dem Kernikterus, einer Extremform der Neugeborenen-Gelbsucht. Sie kann dazu führen, dass auch bei eigentlich gesunden Babys Nervenzellen im Kern des Gehirns irreparabel zerstört werden. Am Kernikterus erkranke mittlerweile eines von 4000 Neugeborenen, erklärt Monika Berns. In fast allen Fällen hätten die Mütter entweder ambulant entbunden oder das Krankenhaus frühzeitig verlassen. Vielen sei die Gefahr nicht bewusst, die in Extremfällen aus der Gelbsucht erwachsen könne. „Mehr als die Hälfte aller Babys werden ein paar Tage nach der Geburt sichtbar gelb“, erläutert die Medizinerin. Die Leber von Neugeborenen nimmt ihre Funktion nämlich erst allmählich auf. Dadurch erhöht sich die Konzentration von Bilirubin, einem Abbauprodukt des Blutfarbstoffs Hämoglobin, im Körper. Dieser Farbstoff wird normalerweise von der Leber verändert und dann ausgeschieden. Der Höhepunkt der Neugeborenen-Gelbsucht wird zwischen dem vierten und fünften Lebenstag erreicht – zu einem Zeitpunkt, an dem viele Eltern das Krankenhaus längst verlassen haben.

Zu einer großen Gefahr für Neugeborene kann Bilirubin werden, wenn eine Konzentration von 20 Milligramm pro Deziliter Blut erreicht wird. Denn dann lagert sich Bilirubin auch im Gehirn an. „Bei jedem zwanzigsten Neugeborenen klettert der Bilirubin-Wert über diese kritische Grenze“, sagt Monika Berns. Wenn dann nicht schnell gehandelt wird und der Wert noch höher steigt, können wichtige Nervenzellen in Kernen des Gehirns absterben.

Das Thema Neugeborenen-Gelbsucht beschäftigt die Medizinerin seit langem: Vor zehn Jahren erstellte sie an der Freien Universität Berlin gemeinsam mit Professor Hans Versmold Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften für den Umgang mit Gelbsucht bei so genannten reifen, gesunden Neugeborenen – Empfehlungen also für jene Babys, die zwischen der 37. und 40. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Vor drei Jahren legte sie die Leitlinien gemeinsam mit ihrem Kollegen Professor Christoph Bührer neu auf.

„Ein zu hoher Bilirubin-Spiegel bei Neugeborenen wird seit mehr als 30 Jahren durch Foto-Therapie behandelt“, erklärt Monika Berns. In West-Berlin wurde das Verfahren damals in der Kinderklinik der Freien Universität Berlin erprobt, dem Kaiserin-Auguste-Victoria-Haus. Die Methode ist ungefährlich und hat sich bis heute bewährt: Das Baby wird dabei zumeist in zwei Intervallen von jeweils sechs Stunden einer blauen Lichtquelle ausgesetzt. Durch das Licht spaltet sich Bilirubin in Moleküle, die aus dem Körper besser abgeschieden werden können. Nur im Extremfall muss das Blut des Neugeborenen ausgetauscht werden. Weil das Gehirn so fettreich ist, lagert sich Bilirubin dort besonders leicht ein. Für Neugeborene sind die Folgen prekär: „Werden bestimmte Areale im Gehirn zerstört, kommt es zu lebenslangen Hörschäden“, legt die Ärztin dar. Gefährdet sind dabei auch Nervenzellen, die die Koordination von fließenden Bewegungsabläufen steuern. Im schlimmsten Fall endet der Kernikterus tödlich.

Ein flächendeckender Bilirubin-Test bei der Entlassung könnte die Gefahr reduzieren, glaubt die Oberärztin – doch der ist nicht vorgesehen. Eltern müssten in den Krankenhäusern zudem ausführlich darüber informiert werden, wo sie nach der Entlassung Rat finden, wenn sich die Haut ihres Kindes verfärbt – doch das geschieht nicht überall. In den USA sei das in der Regel anders: Dort empfehle die medizinische Gesellschaft American Academy of Pediatrics, Eltern auf die Gefahr im Zusammenhang mit der Gelbsucht aufmerksam zu machen und diese Aufklärung durch eine Unterschrift zu belegen.

Selbst die gelben Vorsorge-Hefte, die in Deutschland alle Eltern nach der Geburt erhalten, seien hier nicht hilfreich, meint Monika Berns: „In dem veralteten Heft ist eine Prüfung des Bilirubin-Wertes in den ersten Lebenstagen nicht vorgesehen.“ Dieses Problem kennt auch Regine Knobloch vom Bund Deutscher Hebammen. „Wenn die Bilirubin-Werte während der ersten Lebenstage durch das Krankenhaus aufgezeichnet würden und es einen besseren Informationsaustausch gäbe, könnten ungünstige Verläufe der Neugeborenen-Gelbsucht leichter erkannt werden“, sagt die Beraterin.

Hinzu kommt, dass die für Babys vorgesehenen ersten Routine-Untersuchungen zu grobmaschig sind, wenn es um die Neugeborenen-Gelbsucht geht. „Wer zur zweiten Routine-Untersuchung, der U2, die zwischen dem dritten und zehnten Lebenstag vorgesehen ist, schon am Anfang oder erst am Ende des empfohlenen Zeitraums geht, verpasst möglicherweise den Höhepunkt der Gelbsucht“, betont Oberärztin Berns. Und bei der dritten Routine-Untersuchung – zwischen der vierten und sechsten Lebenswoche – kämen Behandlungen im Falle eines festgestellten Kernikterus zu spät.

Auch die Nachbetreuung durch Hebammen zu Hause ändert nach Monika Berns Erfahrung wenig an dem Problem: „Freiberufliche Hebammen haben in der Regel keine Instrumente, den Bilirubin-Wert von Babys zu messen.“ Dem stimmt Regine Knobloch zu, betont aber: „Hebammen kennen die Kernikterus-Gefahr und raten im Zweifelsfall immer zu einem Besuch beim Kinderarzt. Nicht alle Mütter nehmen aber Kontakt zu einer Hebamme auf, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, weil sie nicht wissen, dass ihnen eine kostenlose Wochenbett-Betreuung zusteht.“

Ärztin Berns rät Müttern, die ambulant entbinden oder das Krankenhaus frühzeitig verlassen, ihr Baby genau zu beobachten, wenn dessen Haut und Augenweiß sich gelb verfärben: Es gibt mehrere Symptome dafür, dass Bilirubin sich in den Organen einlagert. Die Babys schreien aus unerklärlichen Gründen schrill und aggressiv, sind schläfrig und schlapp, trinken schlecht und verlieren mehr als ein Zehntel ihres Gewichts. Wer diese Merkmale beobachtet, sollte keine Zeit verlieren und unbedingt einen Arzt oder Notarzt aufsuchen.

„Panik ist bei der Neugeborenen-Gelbsucht allerdings unangebracht“, betont Monika Berns, „die Krankheit hat in der Regel keine negativen Folgen für das Kind.“ In Einzelfällen aber könne ein zu hoher unbehandelter Bilirubinspiegel gravierende Auswirkungen haben. Wachsam müssten daher alle gleichermaßen sein: Ärzte, Eltern und Hebammen.

Carsten Wette

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