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Kultur: Gefangen im Kaukasus

Die Tragödie von Beslan und der Mythos Tschetschenien: Geschichte eines russischen Traumas

Seitdem Selbstmordattentäter zwei Passagierflugzeuge in die Luft jagten, ist das Wort Tschetschenien aus dem offiziellen Sprachgebrauch der Russen verschwunden. Nach dem Anschlag auf die Metrostation Rischskaja fand der Geheimdienst Spuren, die zur „islamistischen Internationale des Terrors“ führten: Die Moskauer Polizei achtete besonders auf Frauen mit „orientalischen Gesichtszügen“. Auch die Geiselnahme, die nun in Beslan so blutig endete, setzte Putin auf die Rechnung von Al Qaida und Osama bin Laden.

Das ist nicht ganz falsch. Al Qaida hat in Tschetschenien investiert, Rebellen der abtrünnigen Republik werden in Afghanistan geschult, und Chattab, ein enger Verbündeter der Warlords um Schamil Bassajew, wurde Mitte der Neunzigerjahre aus Jordanien in den nördlichen Kaukasus entsandt. Der Tschetschenienkrieg, der seit der Wahl vom Oktober 2003 offiziell als beendet gilt, ist schon lange kein Krieg mehr, in dem es nur um die Unabhängigkeit der kleinen Republik geht. Die Radikalen kämpfen – auch gegen die eigene Bevölkerung – für einen islamischen Gottesstaat. Doch wenn Putin dem „internationalen Islamismus“ nun die Verantwortung für den Tod von Hunderten von Menschen zuschreibt, leugnet er noch dreister als früher, dass auch den jüngsten Anschlägen ein Konflikt zugrunde liegt, der historisch mit dem islamistischen Terror nichts zu tun hat. Und er lenkt ab vom Tschetschenien-Trauma, das älter ist als der Anschlag auf das Moskauer Musicaltheater vor zwei Jahren.

Seine Ursachen reichen weit zurück hinter den ersten Tschetschenienkrieg, den Jelzin 1994 als Rachefeldzug eines gedemütigten Imperiums vom Zaun brach. Ja, sogar weiter als bis zum Zweiten Weltkrieg, als Stalin die Tschetschenen nach Kasachstan verbannte. Sie liegen begründet in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts: Seitdem gilt Tschetschenien in der russischen Literatur, bei Lermontov, Tolstoi und Puschkin, als Heimat des unbeugsamen Anderen, der lieber in den Tod geht, als sich bezwingen zu lassen.

„Es gab eine Nation, die der Psychologie der Unterwerfung standgehalten hatte – als Nation, als Ganzes, nicht nur die Einzelgänger, die Rebellen. Das waren die Tschetschenen. (...) Immer traten sie jeder Obrigkeit stolz, ja sogar offen feindselig entgegen. Und seht das Wunder – alle fürchteten sich vor ihnen,“ schrieb Alexander Solschenizyn Anfang der Siebzigerjahre. Im dritten Band des „Archipel Gulag“ inszeniert er die Angehörigen dieses Volkes als Gegenbild zu den unterwürfigen, durch die Zermürbungspraktiken der Aufseher gedemütigten Russen. Dabei beruft er sich auf seine Beobachtungen im Arbeitslager, aber auch auf jenen literarischen Topos, der bis heute als Subtext jedem russischen Zeitungskommentar über Tschetschenien zugrunde liegt.

Schon in der Literatur des 19. Jahrhunderts schwankten die Darstellungen zwischen Furcht und Faszination, Ekel und Bewunderung. Alexander Puschkin, der erste russische Dichter, der wegen seiner Spottverse auf die Zaren und der Sympathie für die Französische Revolution 1820 in den Kaukasus strafversetzt wurde, erzählt in „Die Reise nach Arzrum“ von einem Tschetschenen, der einen russischen Soldaten erschießt, bloß weil sein Gewehr zu lange geladen war. „Was macht man mit so einem Volk? Reichtum könnte ihre Zähmung wohltuend beeinflussen, der Samowar wäre eine wichtige Neuerung.“ Puschkin überlegt noch, ob die christliche Mission diese Menschen zur Raison bringen könnte, verwirft jedoch die Idee. Wie fast alle Autoren nach ihm braucht er das Fremdartige des Menschenschlages und seiner Umgebung als Projektionsfläche für eine fatale Liebe. „Manch einen von ihnen hab ich im Gefecht gesehen, der war wie ein Sieb von Bajonetten durchbohrt und schwang noch immer seinen Säbel“, schreibt Michail Lermontow nur wenige Jahre später in „Ein Held unserer Zeit“.

Der wilde Kaukasus war in der russischen Romantik mehr als nur ein orientalisches Pendant zu Goethes Alpen. Er war das Land, wo Zitronen und blaue Blumen blühten und Schauplatz imperialer Expansion. Eine byroneske Sehnsucht nach dem gefährlichen Leben zog die von Weltekel gequälten jungen Dichter an den Rand des damaligen Imperiums, das sich unter Katharina der Großen und ihrem Geliebten Potjemkin immer weiter nach Süden ausdehnte. Wladikawkas, jene 1748 gegründete Stadt in der heutigen Republik Ossetien, in der ein Großteil der bei dem Terroranschlag verletzten Kinder medizinisch behandelt wird, sollte der Brückenkopf sein, von dem aus die kaiserliche Armee bis nach Aserbaidschan ans kaspische Meer vordringen wollte – unterstützt durch diverse Kosakenkorps. Über den Kaukasus verliefen die Handelsstraßen aus Indien und Persien, kulturell verband er Russland mit den christlichen Untertanen Georgiens und Armeniens, politisch blieb er bis zur russischen Revolution eine der ärgsten Herausforderungen für die Monarchie. Tschetschenen, Osseten, Tscherkessen, die neben ihren Stammesältesten keinen Zar oder Mufti anerkannten, ließen sich kaum in den Obrigkeitsstaat integrieren.

Lew Tolstoj diente 1851 – 1854 als Freiwilliger in Wladikawskas. 20 Jahre später verfasste er seine Erzählung vom „Gefangenen im Kaukasus“ (die Sergej Bodrov 1996 kongenial verfilmte). Und erst Ende des 19. Jahrhunderts beschrieb er die russische Unterwerfungspolitik als ebenso brutal wie aussichtslos: Seine letzte, postum in den 1920er-Jahren erschienene Novelle „Hadschi Murat“ liest sich bestürzend aktuell. Anders als seine schwärmerischen Vorgänger hatte Tolstoj einen Blick für die perverse Logik des Konflikts: Er unterscheidet nicht zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, sondern zwischen solchen, die als Waffen- und Frauenhändler vom Krieg profitieren, und solchen, deren Leid in Hass umschlägt.

Doch auch Tolstoj bedient wieder das Klischee von den „Bergbewohnern“: „Es war ein so fassungsloses Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser Geschöpfe, dass der Wunsch, sie wie Ratten, Wölfe oder giftige Spinnen auszurotten, ebenso selbstverständlich erschien wie der Trieb der Selbsterhaltung.“

Auf diese Weise hat die Tschetschenien-Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die rhetorischen Schablonen gestanzt, mit deren Hilfe der Unabhängigkeitskrieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kulturalisiert wurde. Sie finden ihr Echo noch in der heutigen Literatur, etwa wenn Andrej Kurkow den Helden seines zweiten Pinguin-Romans nach Tschetschenien schickt. In „Pinguine frieren nicht“ (2003) verschlägt es Viktor auf der Suche nach seinem geliebten antarktischen Haustier in den gnadenlosen Krieg im kaukasischen Gebirge. Zwischen Schmugglern, Gangstern und Hasardeuren verdingt er sich in einer Pipeline als Leichenverbrenner: Die liebevoll gezeichnete Farce der russischen Gegenwart verfinstert sich ins mörderisch Makabre.

Wenn in Russland nun nicht mehr vom kriminellen Freiheitsdrang der Tschetschenen die Rede ist, der die Integrität des Imperiums gefährdet, muss das kein gutes Zeichen sein. Putin errichtet vielmehr ein neues Trugbild. Da Tschetschenien offiziell als „befriedet“ gilt, kann der Terror nach dieser Logik nur noch von außen kommen. Nach der Präsidentschaftswahl vom letzten Sonntag, bei der der Kandidat des Kreml wundersame 74 Prozent der Stimmen erhielt, sahen die russischen Fernsehzuschauer den frisch restaurierten Springbrunnen von Grosny. Sie sahen nicht, dass in dieser Stadt fast kein Stein mehr auf dem anderen liegt. Und sie erfuhren nicht, dass die OSZE sich weigerte, die Wahl zu beobachten, weil das Ergebnis von vornherein feststand. Tschetschenien, das täglich neu verdrängte Trauma.

Manchmal trägt selbst der westliche Mainstream Symptome des Tabus: Tom Hanks, der in Steven Spielbergs neuem Film „The Terminal“ als illegaler Flüchtling auf dem New Yorker Flughafen haust, stammt aus – Krakosien. So klingt Kaukasien, wenn man es nicht beim Namen nennen will.

Stefanie Flamm

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