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Jeden Mittwoch singen Geflüchtete und Berliner gemeinsam arabische und deutsche Lieder.

© Thilo Rückeis

Geflüchtete und Berliner singen zusammen: Grooviges Willkommen

Die Proben des Begegnungschors sind laut und wuselig. Berührungsängste vor der anderen Kultur gibt es bei den Berlinern und Flüchtlingen aber nicht. Gemeinsam singen sie arabische und deutsche Lieder. Dazu gehören auch Klassiker wie „99 Luftballons“ von Nena.

Melodischer Gesang erfüllt die kleine Aula der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Rund 50 Flüchtlinge und Berliner wippen gemeinsam durch den Raum und spielen unter der Anleitung von Bastian Holze die kürzeste Oper der Welt mit dem Text „Hello! I love you! Goodbye!“. Einer der Flüchtlinge ist Samer, 34 Jahre alt. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs sei er Offizier in der syrischen Armee gewesen. Da er weder auf Regierungsseite noch auf der Seite der mit der Terrororganisation Al Qaida verbündeten Nusra-Front kämpfen wollte, floh er nach einem Gefängnisaufenthalt über die Balkanroute nach Deutschland. Ihm gegenüber steht Petra Merkel, Präsidentin des Chorverbandes Berlin. Theatralisch heben sie die Hände bei „Hello“ in die Höhe, schauen sich bei „I love you“ in die Augen und wenden ihr Gesicht bei „Goodbye“ ab. Dann geht es weiter zur nächsten Person. Berührungsängste vor der anderen Kultur? Gibt es hier nicht.

Auch arabische Lieder stehen auf dem Lehrplan des Chores.
Auch arabische Lieder stehen auf dem Lehrplan des Chores.

© Thilo Rückeis

Ängste abbauen, andere Kulturen und Sprachen kennenlernen, Gemeinschaftsgefühl vermitteln – das versucht der Begegnungschor, der im Oktober 2015 vom Verein „Leadership Berlin – Netzwerk für Verantwortung“ und dem Chorverband Berlin gegründet wurde. Inzwischen hat sich der Chor selbst eine Vereinssatzung gegeben. „Damit können wir eigene Fördergelder beantragen, Spenden annehmen und hoffentlich auch unsere bisher ehrenamtlichen Chorleiter bezahlen“, sagt Susanne Kappe, Vorsitzende des Vereins und Projektkoordinatorin bei Leadership Berlin. Die Idee des Begegnungschores ist simpel. „Die sogenannten Altberliner, die schon länger in der Stadt wohnen, können nur mitmachen, wenn sie einen Neuberliner, in dem Fall einen Flüchtling, zu den Proben mitbringen“, erzählt die 29-Jährige. „Wir wollen die Berliner animieren, in den Flüchtlingsunterkünften oder bei den Willkommensinitiativen in der Nachbarschaft vorbeizuschauen.“ Wer einen Tandempartner gefunden hat und mitmachen will, muss sich vor der ersten Probe per E-Mail beim Begegnungschor melden. Flüchtlinge sind auch ohne Anmeldung willkommen.

Ein Chor braucht auch eine musikalische Begleitung. Die vier Flüchtlinge sind bereits nach kurzer Zeit ein eingespieltes Team.
Ein Chor braucht auch eine musikalische Begleitung. Die vier Flüchtlinge sind bereits nach kurzer Zeit ein eingespieltes Team.

© Thilo Rückeis

Die Chormitglieder spiegeln den bundesweiten Durchschnitt der Geflüchteten wieder. Überwiegend junge Männer aus Syrien, einige Eritreer, Iraner und Somalier, wenige Frauen. „Für viele Flüchtlinge ist der Begegnungschor eine Möglichkeit, den engen, überfüllten Unterkünften zu entkommen“, sagt Kappe. Privatsphäre gibt es dort kaum. Das weiß auch der regierungskritische syrische Journalist Abdulrahman, der im Februar 2015 nach Berlin kam und lange Zeit in einer alten Schule im Wedding untergebracht war. „Eine Freundin, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert, hat mich auf den Chor aufmerksam gemacht“, sagt der 35-Jährige, der während der Probe ein emotionales Solo auf Arabisch vorsingt.

Chorleiter Bastian Holze dirigiert die rund 50 Flüchtlinge und Alt-Berliner.
Chorleiter Bastian Holze dirigiert die rund 50 Flüchtlinge und Alt-Berliner.

© Thilo Rückeis

Wolfgang Rettig ist Hobbysänger und einer der Berliner Teilnehmer. Er hat gleich zwei Tandempartner mitgebracht: junge syrische Flüchtlinge aus einer Notunterkunft in einer Sporthalle in der Lessingstraße in Steglitz. Sie alle sind heute erstmals dabei. „Beide sind seit zwei Monaten hier, haben in Syrien studiert und würden in Deutschland gerne ihre Ausbildung abschließen“, erzählt Rettig. „Deshalb lernen sie fleißig Deutsch.“ Auch während der Proben spielt die Sprache eine besondere Rolle. „Wir verständigen uns mit einem Gemisch aus Deutsch, Arabisch, Französisch und Englisch“, sagt Michael Betzner-Brandt, der den Chor gemeinsam mit Bastian Holze leitet. Unterstützt werden sie dabei von vier Flüchtlingen, die das Ganze musikalisch begleiten. „Einige sprechen unsere Sprache schon recht gut und übersetzen alles für uns.“

Einsingen mit der kürzesten Oper der Welt: "Hello. I love you. Goodbye!"
Einsingen mit der kürzesten Oper der Welt: "Hello. I love you. Goodbye!"

© Thilo Rückeis

Den Flüchtlingen bietet sich im Begegnungschor vor allem die Möglichkeit, Deutsch zu lernen, durch den Kontakt zu den Berlinern oder die Gesangsstücke. „Inzwischen haben wir insgesamt acht Lieder in unserem Repertoire“, sagt Bastian Holze, „darunter auch deutsche Klassiker wie ‚Die Gedanken sind frei’ oder Nenas ‚99 Luftballons’.“ Während der Proben sitzt ein „Neuberliner“ immer neben einem „Altberliner“, so können die Sänger sich gegenseitig beim Text unterstützen, denn natürlich werden auch arabische Lieder gesungen. Jedes Lied wird über einen Beamer an die Wand projiziert, und so lernen mitunter auch die Berliner eine neue Sprache. Gemeinsam versucht der Chor das Lied „Bint El Shalabiya“ von der im arabischen Raum sehr bekannten libanesischen Sängerin Fairuz zu singen. Der arabische Text wurde dafür in die lateinische Schrift transkribiert. Das Lied handelt von einem Mädchen in Sevilla, wo im Mittelalter Juden, Muslime und Christen weitgehend friedlich miteinander lebten. Man darf dieses Stück auch als Botschaft des Begegnungschores verstehen.

Kontakt: www.begegnungschor.com. Geprobt wird mittwochs von 18 Uhr 30 bis 21 Uhr. Um Anmeldung wird gebeten.

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