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Kultur: Gefühlsgefängnis - Willy Decker liest "Katja Kabanova" in Amsterdam als expressionistisches Drama

Die Hauptqualität einer guten Janacek-Inszenierung, emotional zu ergreifen und in einem ganz unkitschigen Sinn zu rühren, erreicht Willi Deckers neue "Katja Kabanova" schon während des kurzen Orchestervorspiels zum ersten Akt: Barfuß, nur mit einem dünnen Unterrock bekleidet steht seine Katja im bunkerartig lang gestreckten Bühnenraum und starrt auf den schmalen Spalt, der zwischen Seitenwänden und Decke einen Blick in den Himmel freigibt. Unbeholfen ahmt sie die sanft schwingenden Bewegungen der Vögel dort draußen nach, bis sich der Ausblick verschließt und die in Apathie Zurücksinkende von herbeieilenden Mägden für den Kirchgang in ein schwarzes Sonntagskleid gezwungen wird.

Die Hauptqualität einer guten Janacek-Inszenierung, emotional zu ergreifen und in einem ganz unkitschigen Sinn zu rühren, erreicht Willi Deckers neue "Katja Kabanova" schon während des kurzen Orchestervorspiels zum ersten Akt: Barfuß, nur mit einem dünnen Unterrock bekleidet steht seine Katja im bunkerartig lang gestreckten Bühnenraum und starrt auf den schmalen Spalt, der zwischen Seitenwänden und Decke einen Blick in den Himmel freigibt. Unbeholfen ahmt sie die sanft schwingenden Bewegungen der Vögel dort draußen nach, bis sich der Ausblick verschließt und die in Apathie Zurücksinkende von herbeieilenden Mägden für den Kirchgang in ein schwarzes Sonntagskleid gezwungen wird. Ein Geschöpf, das in seiner Hilflosigkeit und Verletzlichkeit unmittelbar rührt, "eine Frau von so sanftem Gemüt, dass eine leichte Brise sie schon davonwehen würde", wie Janacek 1920 den Charakter der Heldin seiner fünften Oper beschrieb.

Es bleibt ein bewegender Abend an der Amsterdamer Oper, behutsam ausbalanciert zwischen naturalistischer Kleinbürger-Tristesse und einer expressionistischen Visualisierung von Katjas Beklemmungszuständen aus, zwischen äußerer und innerer Welt. Für Ersteres stehen vor allem die schlichten schwarzen Jahrhundertwende-Kostüme und kargen Requisit-Möbel, die aus jeder traditionellen Ibsen- oder Hauptmann-Inszenierung stammen könnten. Für Letzteres vor allem Wolfgang Gussmanns minimalistisch graubeplankte Bühne: Ein Gefühls-Gefängnis, dessen Decke sich herabsenkt wie eine Grabplatte.

Leben und Freiheit sind nur dort, wo wir nicht sind, vermitteln immer wieder die schmalen, unerreichbaren Spaltöffnungen, die ein Stück Himmel zeigen. Einen Ausweg aus diesem Lebendig-begraben-Sein bietet nicht der Ehebruch, den die unter ihrer tyrannischen Schwiegermutter leidende Katja mit dem jungen Boris begeht, sondern nur der Selbstmord: In dem Moment, in dem sich Katja in die Wolga stürzt, lässt Decker langsam eine Vogelsilhouette als Seelensymbol ins Bühnendunkel entschweben - die Vision der Anfangsszene erfüllt sich, der Tod wird zum Friedensbringer.

Deckers karges, asketisches "Katja"-Konzept zielt ganz auf die Offenlegung der Lebensnerven, die sich im Haus der Kaufmannsfamilie Kabanov verflechten - keine szenische Russenfolklore prägt den Blick auf die Darsteller: Für die Gartenszene des zweiten Aktes, in der sich Katja und ihre jüngere Schwägerin Varvara mit ihren Liebhabern treffen, reicht ein leichtes Öffnen der Seitenwände. Der einzige größere Ausstattungszugang, den der Abend erlebt, sind die kindlich schlichten Zeichnungen von Vogelsilhouetten, mit denen Katja die Wände des Gruftraums bedeckt - mehr braucht es nicht, um Sehnsucht und Naivität zu zeigen.

Die Tendenz Decker/Gussmanns, mit ihrem poetischen Expressionismus das Geschehen aus der Empfindungsperspektive Katjas zu zeigen, verstärkt freilich noch die Konzentration auf die Titelfigur, die schon in der Musik übermächtig ist. Alle anderen - Boris, Katjas schwacher Ehemann Tichon, ihre Schwägerin Varvara - sind wenig mehr als Nebenfiguren, die nur flüchtige Charaktereindrücke hinterlassen (und deren Unverständnis Katjas Selbstmord herbeiführt). Das ist auch diesmal nicht anders, obwohl diese Rollen an der Nederlandse Opera ungewöhnlich prominent besetzt sind: Charlotte Hellekant (Varvara), Rainer Trost (Vana), Hubert Delamboye (Tichon) und David Kuebler (Boris) holen aus ihren Rollen heraus, was eben möglich ist - und bleiben dabei doch am Rand des Interesses. Mehr wäre höchstens Katjas herrischer Schwiegermutter Kabanicha möglich gewesen: Decker lässt sie am Ende jeden Aktes allein mit Katja auf der Bühne und setzt einen zusätzlichen tragischen Akzent - im Angesicht von Katjas Leiche begreift die Alte, dass nun sie es ist, die allein zurückbleibt.

Recht glaubhaft wirkt diese Wendung allerdings nicht - zu knusperhexenhaft singt Dame Josephine Barstow die ohnehin wenig schmeichelhafte Musik, die Janacek der Kabanicha in den Mund gelegt hat. Ihre keifig gezackten Gesangslinien liegen wie störende Fusseln auf dem Schönklang-Teppich, den Edo De Waart mit dem Niederländischen Radio-Orchester ausrollt: Die harten Seiten Janaceks, die unruhigen, bohrenden Ostinati, die holzschnittartigen Themenkontraste dämpft Waart oft bis zur Unkenntlichkeit ab - Hauptsache schön gespielt, lautet die Devise, die freilich verhindert, dass aus einem großen ein überwältigender Abend wird.

Es bleibt Katjas Geschichte und Susan Chilcotts Katja: Die Britin besitzt eine jener Stimmen, die immer in direkter Verbindung zum Herzen zu reagieren scheinen. Eine Tagträumerin, die ihre schillernden, zerbrechlichen Töne wie Seifenblasen emporsteigen lässt. Eine Liebende, die die lyrischen Seiten ihres Soprans prachtvoll strömen lassen kann. Eine Verzweifelte, deren Stimme bei dramatischen Ausbrüchen verrät, wie viel Kraft dieses Aufbäumen kostet.

Eine Sängerin. Ein Mensch.Wieder am 20., 22., 25., 28., 30. 5.

Jörg Königsdorf

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