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Setzt sich für mehr Solidarität in der Gesellschaft ein. Der Schriftsteller Deniz Utlu, 1983 in Hannover geboren.

© Heike Steiweg

„Gegen Morgen“ von Deniz Utlu: Preis der Versäumnisse

Mädchen und Revolution: Deniz Utlu setzt sich in seinem Roman „Gegen Morgen“ für Solidarität ein.

Eines Nachts, auf dem leergefegten Columbiadamm zwischen Tempelhofer Feld und Hasenheide, geht Kara auf, was er sich wünscht: Ein Leben ohne Zukunft oder Vergangenheit, das ewige Jetzt in „Endlosschleife“, wie „diese Straße in der Nacht, als Spurrille einer Vinylplatte, in die die Nadel immer wieder zurückspringt“.

Solche Gedanken befallen den Ich-Erzähler aus Deniz Utlus Roman „Gegen Morgen“ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 269 Seiten, 22 €.), seit er in einem Flugzeug über Frankfurt in ein schweres Unwetter geriet und einen Moment lang fürchtete, abzustürzen. Der 33-Jährige beginnt sein Leben in Frage zu stellen. Seine Freundin Nadia, von der er sich innerlich bereits getrennt hat, lässt er am Frankfurter Flughafen warten.

Stattdessen reist er zurück nach Berlin und stellt sich dort den Geistern seiner Vergangenheit – allen voran Ramón, der früher ständig zu den unmöglichsten Zeiten in der WG von Kara und dessen bestem Freund Vince auftauchte. Jahrelang lebte der verschlossene Außenseiter mit ihnen in denselben Räumen, nur um dann ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Nun sitzt Ramón neben Kara im Auto – oder handelt es sich lediglich um eine intensive Erinnerung?

Der Held vergräbt sich in Hannah Arendts „Macht und Gewalt“

Im selben Maße, wie die Zeitebenen durcheinander geraten, zerbröckelt auch Utlus realistischer, anfangs beinahe naiv wirkender Erzählton. Parataktisch aneinandergereihte Sätze zerlegen sich in schlaglichtartige Sinneseindrücke, machen zunehmend surrealen Elementen Platz.

Nicht nur Ramón, auch Vince taucht in der vermeintlich leeren Wohnung auf – oder vielleicht ist er wirklich noch einmal zurückgekehrt, um seine letzten Umzugskartons abzuholen. Aber woher kommen plötzlich die drei Hunde? Manche Verwirrung mag dem Schlafentzug, der Nervenkrise des Ich-Erzählers zuzuschreiben zu sein; anderes wiederum wirkt unnötig verrätselt.

Indes schälen sich Ramón und Vince als gegensätzlich angelegte Versionen von Kara heraus – der eine zermürbt sich beharrlich im Scheitern, der andere auf steilem Erfolgskurs. Während Vince etwas klischiert als gnadenloser Selbstoptimierer und notorischer Aufreißertyp daherkommt, entwirft Utlu mit Ramón eine facettenreiche, dunkel-schillernde Figur, die zugleich abstößt und fasziniert.

Obwohl hochintelligent, bringt Ramón kein Studium zu Ende. Tage- und nächtelang vergräbt er sich in Hannah Arendts „Macht und Gewalt“ oder Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“. Um seinen Drogenkonsum zu finanzieren, spendet er sein Blut dem Roten Kreuz; auf Parties überzieht er Mädchen mit Monologen darüber, „wie die Kernphysik uns linguistisch befreien könne“.

Es geht um die „versunkenen Kosten eines Lebens“

Er ist der bindungsgestörte Nerd, der noch nie jemanden geküsst hat, dann wieder scheint er latent gewaltbereit – oder will er nur provozieren, wenn er in der Apotheke nach explosiven Substanzen fragt?

Versatzstücke von Ramón kennt man als Schreckensbilder aus den Medien: Liebesentzug, der in Rachefantasien mündet, ein Hang zur Radikalisierung, eine Prise toxischer Männlichkeit. Vor dem geistigen Auge formt sich fast unweigerlich das Bild eines Amokläufers, eines Selbstmordattentäters in spe. Doch ganz so leicht macht Utlu es sich und seinen Leserinnen dann doch nicht.

Kara selbst scheint ohne Ehrgeiz, beinahe ohne eigenen Willen zwischen beiden Polen zu hängen. Nach seinem pragmatisch gewählten VWL-Studium unterrichtet er halbherzig an einer Hochschule und schreibt an einer Studie über „die Kosten eines Lebens“.

Die darin angestellten Überlegungen werden zu einer Art Leitmotiv, das sich durch den Roman zieht: Wo und wie rächt sich „ein Fehler, der erkannt wurde und weitergeführt wird, weil es zu teuer wäre, damit aufzuhören“. Die „versunkenen Kosten eines Lebens“ in mathematische Formeln zu fassen, ist eine interessante Idee – Utlu allerdings wiederholt sie etwas zu hartnäckig, und letztendlich vermag sie nicht durch den Plot zu tragen.

Trotz detaillierter Rückblenden in seine Jugend wirkt Kara schablonenhaft: Mit 15 reden er und Vince nächtelang „über Mädchen und Revolution“, nach dem Abitur ziehen sie „in eine heruntergekommene Wohnung in Schöneberg“, wo sie auf Isomatten schlafen, Pasta mit Sauce essen und Rotwein aus Einmachgläsern trinken.

All das meint man irgendwoher zu kennen; Spezifisches zeigt sich kaum. Vielleicht ist es Programm, Kara als grob schraffierte Projektionsfläche zu belassen. Doch sorgt dieser Anspruch auf Allgemeingültigkeit auch dafür, dass einem die Figur ein wenig egal bleibt.

Wie schon in seinem Debütroman „Die Ungehaltenen“ macht sich Deniz Utlu stark für Solidarität, genaues Hinsehen, eine radikale Verletzlichkeit. Und wieder gelingen ihm eindrückliche Bilder und Szenen. Dennoch bleibt fraglich, ob sich aktuelle Zu- und Missstände besser verstehen lassen, indem man soziale und politische Kontexte so weit abstrahiert, wie „Gegen Morgen“ es versucht.

Anja Kümmel

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