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Kultur: Gegen Zar und Führer

Der Dokumentarfilm „Sergej in der Urne“ folgt einem russischen Erfinder durchs 20. Jahrhundert.

Die Urne mit der Asche des Urgroßvaters steht auch dreißig Jahre nach seinem Tod immer noch bei einem seiner Söhne im Regal. Denn diese sind untereinander viel zu verfeindet, um sich auf Art und Ort der Beerdigung zu einigen. Dabei hatte Sergej Stepanowitsch Tschachotin sich selbst zuletzt eine Bestattung in seiner korsischen Seelenheimat gewünscht. Vielleicht war sein Leben vorher zu unstet, fünf Mal war er verheiratet, acht Söhne hatte er gezeugt, die einzelnen Restfamilien immer wieder bei Umzug oder Flucht zurückgelassen. Die Entwicklung von Familiengefühlen braucht unter solchen Umständen wohl ein paar Generationen Zeit: Als Kind hatte Boris Hars-Tschachotin von Großvater Wenja immer wieder faszinierende Geschichten von Sergej und den anderen Großonkeln gehört und träumte von einem riesigen Familienfest.

Später dann, als Erwachsener, ging der Urenkel an die Realisierung des alten Kindertraums und versuchte, die in Europa verstreuten Brüder doch noch einmal zusammenzubringen – sei es auch nur zum Leichenschmaus. Seine Bemühungen dokumentiert dieser Film, ebenso wie das bewegte Leben des 1883 in Konstantinopel geborenen Ahnen. Der war nicht nur Frauenheld und – teils freiwilliger, teils erzwungener – Weltbürger, sondern auch brillanter Wissenschaftler, Erfinder des ersten Laserschwertes und politischer Aktivist gegen Zar, Nazis und Atomkrieg. Die hessische NSDAP hatte der Pawlow-Adept 1932 bei der letzten freien Wahl sogar mit einer verhaltenspsychologisch angelegten Gegenpropaganda-Kampagne für die Eiserne Front besiegt. Hars-Tschachotin konstruiert das schillernde Leben seines Urgroßvaters aus von Ulrich Matthes gelesenen Tagebuchaufzeichnungen und Aussagen von vier überlebenden Söhnen. Im wirklichen Leben sprechen sie nicht mehr miteinander.

Für den Film hat Hars-Tschachotin sie in hübsch animierten Zwischenpassagen zur direkten Kommunikation gezwungen und bringt so die unterschiedlichen Positionen zum Schwingen. Widersprüche, Verweigerungen und Erzähllöcher gehören zum Programm.

„Sergej in der Urne“ ist eine Abenteuerreise quer durchs bewegte 20. Jahrhundert und zugleich eine filmische Familienausstellung. Am Ende streut statt Sohn Eugen ein Körper-Double von einem korsischen Felsen Sergejs Asche ins Meer, ohne dass der Schwindel auffliegt. Der Regisseur klärt uns gleich darüber auf. Möglich, dass auch der Rest des Erzählten nur sehr gut erfunden ist. Schaden würde es nicht. Silvia Hallensleben

Babylon Mitte, Filmkunst 66, Moviemento; OmU im Krokodil

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