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Ziege online. Skulptur von Stephan Dillemuth bei der Manifesta.

© Ilya Rabinovich

Gegenwartskunst: Kunstbetrieb: Immer mehr meckern

Die Lücke zwischen Symbolischem und Realem scheint sich immer mehr zu schließen. Die Kunst ist besessen von der Wirklichkeit. Kann sie etwas ändern? Die Manifesta in Spanien und ein Symposium in Berlin.

Bevor er sein „Theater der Unterdrückten“ entwickelte, tourte Augusto Boal Anfang der Sechziger durch den Nordosten Brasiliens und spielte Stücke, die zur Rebellion aufriefen. Überaus erfolgreich: Es könne gleich losgehen, rief ein Zuschauer, wir nehmen jetzt alle unsere Waffen und gehen rüber zu den Schlägertrupps des Generals. Die Theatermacher guckten betreten. Ihre Waffen seien ja keine echten Waffen. Sie wüssten auch gar nicht wie man schießt. Boal gestaltete sein Theater daraufhin differenzierter und öffnete es für Lösungsvorschläge aus dem Publikum – anders als etwa Volker Lösch, der in Stuttgart die Massen choreografierte und heute Abend in der Schaubühne mit seiner „Nuttenrepublik“ Premiere feiert.

Ein alter Widerspruch: Wer auf der Bühne steht, darf nicht wirklich schießen. Und wer im Gefecht steht, hat keine Zeit, den Skizzenblock rauszuholen. Deshalb gibt es eine bewährte Arbeitsteilung: Die einen handeln im Symbolischen, die anderen im Realen. Dazwischen klafft eine Lücke.

Sieht man sich allerdings in der Gegenwartskunst um, scheint sich diese Lücke zunehmend zu schließen. In London und Köln feiern Ausstellungen die Kunst der Schwedin Klara Lidén, die sich tanzend in der U-Bahn filmt oder ihre Zimmereinrichtung in den Galerieraum stellt. Emphatisch forderte die letzte Berlin Biennale die direkte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Und ihr nächster Kurator Artur Zmijewski sucht gar die Verbindung zu politischer Aktion.

Der Kunstbetrieb zeigt in jüngster Zeit eine regelrechte Besessenheit von der Realität. Das Bedürfnis nach Protest und direkter Gestaltung, das sich im Blockieren von Bahnhofsbaustellen, Castortransporten und Unternehmenswebsites Bahn bricht, wird hier schon länger durchexerziert und sei es im Sampeln von Politsymbolen der Vergangenheit, von Hämmern, Sicheln und Arbeiterfäusten, wie auf der letzten Istanbul Biennale (deren Hauptsponsor ein Finanz- und Rüstungskonzern war).

Im Juni befragte eine „Kommunismus“-Konferenz in der Volksbühne die alten Utopien neu, mit radikalen Philosophen wie Alain Badiou oder Slavoj Žižek. Ausverkauft. Und am heutigen Sonnabend fragt ein Symposium der Zeitschrift „Texte zur Kunst“ im Berliner Hebbel am Ufer nach dem Potenzial von Kunstkritik als Gesellschaftskritik. Ausverkauft. „Wo stehst Du, Kollege?“, heißt es, als ginge es nun ums Ganze und seien klare Positionierungen gefragt. Thema des neuesten Heftes: „Politische Kunst“.

Beliebig herausgegriffen eine aktuelle Ankündigung für einen Vortrag in den Berliner Kunst-Werken: „Lorenzo Chiesa umreißt in seinem Vortrag die Art und Weise, in der die subjektive Figur des Partisanen es ermöglicht, eine Zone der Unbestimmtheit zwischen provisorischer Moralität und radikaler Politik zu denken.“

Partisanen! Radikale Politik! Dazwischen: Die Unbestimmtheit. Da sitzen wir jungen schönen Kunstliebhaber und lauschen mit ernster Miene. Mit einem Deleuze-Bändchen in der Manteltasche treten wir später hinaus in die Winterkälte und blasen den Rauch unserer Zigaretten ins fahle Laternenlicht der Auguststraße.

Was kündigt sich hier an? Gleichen die Mengen, die zu solchen Veranstaltungen strömen, den Lesekreisen der ’68er? Handelt es sich um kompensatorische Handlungen im Symbolischen? Jedenfalls steht die symbolische Währung des Politischen im Umkreis von Stipendien und Biennalen hoch im Kurs. Eine gewisse Rhetorik hält Einzug, noch wenn es nur um die Beschreibungen formaler Details geht.

Besonders gut lässt sich das zurzeit im Südosten Spaniens beobachten. In die Region Murcia ist die „Manifesta“ eingezogen, eine Wanderbiennale, die kulturelle Umbrüche und soziopolitische Realitäten an den Rändern Europas untersucht. Die unabhängige Gründung aus den frühen Neunzigern ist inzwischen Kulturbotschafter der Europäischen Union.

Von allen Wänden hallt hier der Aktionismus: „Veränderung!“ „Dialog!“ Dabei scheint die Kunst sich vielerorts ganz gut in ihren eigenen Konzepten und Fragestellungen eingerichtet zu haben. Drei Kuratorenkollektive wurden ausgewählt, die unabhängig voneinander Teile der Ausstellung erarbeiteten. Als Räume dienen unter anderem eine frühere Kaserne, ein altes Casino und ein Bürgerkriegsgefängnis. Orte, die so viel Wirklichkeitspatina tragen, dass sie schon fast allein die Show schmeißen könnten.

Prominent platziert laden Tribünen im Lichthof einer Telegrafenamt-Ruine zum Platznehmen ein. Flachbildschirme spielen Diskussionen ab, die Künstlerkollektive über das Kunstsystem führten. Die Anordnung ähnelt einer Parlamentsarchitektur und soll als Beispiel für basisdemokratische Problemlösung stehen. Da sitzen dann also die Familien auf den Podesten und holen sich von dieser auratisch aufgeladenen Präsentation am Ende doch nur wieder das Gefühl ab, etwas Wichtiges gesehen zu haben – erschließt sich nicht, muss Kunst sein. Sinnbild für ein Kunstverständnis, das die eigenen Fragen für allgemeine hält und dabei das Publikum vergisst.

Strukturell wird hier vieles richtig gemacht, um den dialogischen Anspruch umzusetzen: Der Eintritt ist umsonst, das Kunstvermittlungsprogramm wegweisend. Viele der über hundert Künstler entwickelten ihre Arbeiten vor Ort. Der Berliner Künstler David Rych etwa bat Häftlinge aus Jugend- und Erwachsenengefängnissen, mit Kameras ihre Umgebung zu dokumentieren. Anschließend diskutierten sie über den Haftalltag. In der Installation entfaltet sich eine multiperspektivische Verhandlung von Realität, in der sich der Künstler als Gestalter zurücknimmt – streicht man seine filmgeschichtlichen Bezüge weg, müsste man das vielleicht gar nicht mehr Kunst nennen. Was gut ist.

Denn viel zu oft spürt man hier die Spannung des ungelösten Gegensatzes zwischen dem Anspruch sozialer Wirksamkeit und der klassischen Originalitätserwartung. Beispielhaft überwindet ihn das dänische Kollektiv Wooloo, das seinerseits Künstler einlud, zusammen mit der lokalen Blindenorganisation im Dunkeln zu arbeiten. Als Wooloos bisheriges Meisterwerk dürfte ihre Aktion zur Kopenhagener Klimakonferenz gelten: Damals organisierten sie in der ganzen Stadt private Schlafplätze für anreisende Aktivisten. Politische und symbolische Aktion in einem.

Was ist der Kunstbetrieb? Eine oft elitäre, aber prinzipiell offene Szene, die sich über Institutionen und Grenzen hinweg vernetzt. Darin ist sie ohnehin viel politischer, als sie sich gibt. Es gibt über 200 Biennalen auf der Welt, die meist dem Standortmarketing dienen. „Gegenwartskunst lebt von den Krümeln einer massiven Umverteilung von den Armen zu den Reichen“, schreibt die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl in einem Essay. „Die Politik von Kunst ist häufig der blinde Fleck zeitgenössischer politischer Kunst.“

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