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Kultur: Geheime Wünsche

Verrätselt: „A Snake of June“ von Shinya Tsukamoto

Die eigene Körperlichkeit wird schmerzhaft spürbar in der Juni-Hitze. Zudem regnet es in Strömen. Ein Ehepaar lebt scheinbar zufrieden, ohne Intimität. Man hat sich eingerichtet, es funktioniert. Die junge Rinko (Asuka Kurosawa), angestellt bei der Telefonseelsorge, hilft Krebskranken gegen die schlimmsten Depressionen, ihr Mann Shigehiko (Yuji Koutari) geht nach der Arbeit stets ins selbe Cafe. Er sitzt dort am Fenster und schaut hinaus. Er sucht etwas im Dauerregen.

Der Regen in Shinya Tsukamotos „A Snake of June“ – gedreht wurde ausschließlich in der japanischen Regenzeit – reinigt, wäscht Schichten der bürgerlichen Moral ab, legt das Wesen hinter der Fassade der Normalität frei. Rinko bekommt mit der Post Fotos zugeschickt. Jemand hat sie in ihren intimen Momenten fotografiert: wie sie vor dem Spiegel im Minirock posiert und sich die Lippen anmalt; wie sie sich im Internet Vibratoren anschaut; wie sie masturbiert. Die Scham vor ihrem Ehemann macht sie erpressbar. Ein Anrufer – der Regisseur spielt selbst die Rolle – verlangt, sie solle ihre geheimen Wünsche in der Öffentlichkeit ausleben. Er scheint ihre sexuellen Fantasien genau zu kennen. Rinko liefert sich den Ideen des anonymen Voyeurs aus, mit einer Mischung aus Unterwerfung und Faszination.

Was wie eine typischer Erotikthriller mit manierierten Bildern beginnt, wird zu einem Trip durch menschliche und gesellschaftliche Abgründe. Und dabei scheint das voyeuristische Auge, das Objektiv des Erpressers, die Wahrheit erkennen zu können. Als der Unbekannte Shinko sagt, sie habe Brustkrebs – und ihr Arzt stellt das sogleich fest –, wird auch der Ehemann ins Spiel gezogen. Er hat seine Frau schon seit langem nicht mehr angerührt, aber dass ihr eine Brust amputiert werden könnte, ist ihm ein unerträglicher Gedanke – offenbar weniger aus Liebe denn aus Schönheitssinn. Nun fängt der Anrufer an, auch Shigehiko zu erpressen.

Der Film verlässt seine Linearität, die Bilder werden surreal, erinnern an Lynch und Cronenberg. Doch es ist vor allem die kalte Atmosphäre in monochromem Blau, aufgeladen mit sexueller Symbolik, die diesen Film so erdrückend erscheinen lässt. Wie Cyberpunk, nur ist diese Welt nicht mal futuristisch. Shigehiko befindet sich in einem sado-masochistischen Traum, wird mit Maschinenöl begossen – und das erinnert an die beiden „Tetsuo“-Filme, in deren Zentrum eine biomechanische Mensch-Maschine steht. Der Rest ist Triebsublimierung, implodierende Normalität.

„A Snake of June“ könnte man als Beziehungsfilm lesen. Doch bekommen seine Figuren nur in ihrer unterdrückten Lust individuelle Züge. Der Spanner wird zum Therapeuten, ja, zum Heilsbringer gegen das Gift, das das Leben bedroht. Er führt das Paar mit seinen amoralischen Methoden wieder zusammen – doch der Krebs hat schon gestreut.

Central (OmU)

Karl Hafner

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