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Kultur: Geheimnis der schrägen Linie

Die Frau mit der Plattenkamera: zum Tod der großen deutschen Fotografin Ellen Auerbach

Wenn ihr ein Foto gut gelungen sei, sagte sie in einem Interview, dann könne man „in das Bild hinein gehen“ wie in ein großes fremdes Haus – in jedem Zimmer ist etwas Neues zu entdecken. Ellen Auerbach hat viele Häuser gebaut: Die 1906 als Ellen Rosenberg in Karlsruhe geborene Künstlerin war eine der ganz großen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Mehr noch: Sie war überhaupt eine der ersten Frauen, die ihre Arbeit mit der Kamera zum Beruf gemacht hatte.

Wie so oft verlief auch bei ihr der Weg dorthin alles andere als gradlinig. Zunächst studierte Ellen Auerbach an der Badischen Landeskunstschule Karlsruhe Zeichnung und Bildhauerei, unter anderen bei dem Maler Karl Hubbuch, einem Begründer der Neuen Sachlichkeit. Danach wechselte sie nach Stuttgart an die Kunstakademie am Weißenhof, wo sie erste Experimente mit einer kleinen Plattenkamera unternahm, die ihr Onkel ihr geschenkt hatte. Doch erst nach ihrer Übersiedlung nach Berlin 1929 wurde aus der Liebhaberei eine Profession – dann allerdings in rasanter Geschwindigkeit. Zusammen mit Grete Stern eröffnete Ellen Auerbach das nach ihrer beider Spitznamen benannte Fotostudio „ringl + pit“.

Das Atelier der zwei unkonventionellen Frauen in Berlin-Steglitz wurde schnell zu einem Treffpunkt der Bohème – neben etlichen Künstlerporträts entstanden vor allem Werbefotos, die sich durch ihren Witz und ihre Ironie deutlich von denen der Konkurrenz unterschieden. Zu der Zeit war Ellen Auerbach alias „pit“ noch stark von der Bauhaus-Fotografie beeinflusst: Schräge Blickwinkel, ungewohnte Perspektiven, auch surreale Elemente wie Spiegelungen, Vergrößerungen und collagenhafte Verzerrungen prägten ihre Arbeiten.

1933 mussten Auerbach und Stern, beide aus jüdischem Elternhaus, aus Deutschland fliehen. Stern (1999 in Buenos Aires gestorben) ging nach London, Auerbach emigrierte zunächst nach Palästina, und dann – 1937 – in die USA, wo sie seither lebte. Mit den Jahren veränderte sich dort ihr Stil. Manche ihrer Fotos könnte man fast als lieblich bezeichnen, wäre da nicht diese eindrucksvolle Tektonik, die den Motiven (häufig zeigen die Bilder die Ärmsten der Armen) stets die Aura großer Kunst verlieh.

Ihre Kompositionen waren mathematisch und konstruiert bis zur Künstlichkeit, und dennoch schien in ihnen mehr Leben zu stecken als in der Wirklichkeit. Wenn man ihre Bilder aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren betrachtet, erkennt man innere Bezüge: das ausgeklügelte Verhältnis von Licht und Schatten, die Ausgewogenheit der Proportionen, die Klassik des goldenen Schnitts.

Auerbach blieb in jeder Hinsicht ungewöhnlich: Als sie ihre Kreativität schwinden sah, hörte sie auf zu fotografieren und fing 50-jährig ein neues Leben an. Am vergangenen Freitag ist Ellen Auerbach in New York gestorben – mit 98 Jahren.

Ulrich Clewing

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