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Klangtrickser. Geir Jenssen steckt hinter dem Projektnamen Biosphere.

© Mark Mushet

Geir Jenssen: Das Summen von Sendai

Man könnte ihm hellseherische Fähigkeiten zusprechen: Geir Jenssen und sein elektronisches Konzeptalbum über japanische Kernkraftwerke.

Im Mittelalter wäre Geir Jenssen wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet. Wegen Hellseherei. Denn der Norweger hat gerade unter dem Projektnamen Biosphere ein Konzeptalbum mit dem Titel „N-Plants“ veröffentlicht, das sich nur um ein Thema dreht: Nippons Power Plants, also japanische Kernkraftwerke. Das leicht Gruselige daran ist, dass Jenssen es einen Monat vor dem verheerenden Erdbeben, dem Tsunami und der Kernschmelze in Fukushima fertiggestellt hat.

Der 49-Jährige ist weder als Zyniker noch als Spaßvogel bekannt, sondern als ernster Musiker, der seine beiden großen Leidenschaften – die Ambient Music und die Natur – manchmal auf seltsame Weise zusammenbringt. So bestieg er einmal einen Achttausender im Himalaya, nahm die Expedition mit einem Rekorder auf und veröffentlichte das Ganze als Platte.

Eigentlich, schreibt Jenssen im Promotext zu „N-Plants“, wollte er sich mit dem japanischen Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, nach und nach habe sich der Fokus dann aber zu den Kernkraftwerken verschoben. Auf die Art, wie sie sich in die japanische Natur eingepasst hätten, ihre Architektur, aber auch auf die Gefahr, die von ihrer Lage am Meeresrand ausgeht. Wie setzt man das in Musik um? Nicht viele Musiker wären dazu in der Lage, Geir Jenssen aber kann so etwas. Von seinen gelungensten Tracks – und auf „N-Plants“ finden sich etliche davon – geht oft eine unheimliche Bedrohung aus. Er schafft es mit elektronischen Mitteln, eine düstere Atmosphäre entstehen zu lassen. Seine Tracks verströmen Kälte, ohne dabei seelenlos zu wirken.

„N-Plants“ ist ein kleines Meisterwerk, von ähnlicher Qualität wie seine fast 15 Jahre alte Platte „Substrata“, die als eine der besten Ambient-Platten aller Zeiten gilt. Auch auf dem neuen Album erklingt Musik, die an eine ungemütliche Welt denken lässt: an blitzblank geputzte Panele, an riesige Kommandopulte, vor denen einsam ein Techniker sitzt. Wabernde elektronische Sounds und zischende, zischelnde Synthesizer, die nach viel zu viel Elektrizität und undichten Ventilen klingen. Dazu immer mal wieder sanfte Beats, die sich langsam hereinschleichen und dann wieder verschwinden. In einigen der Tracks lässt Geir Jenssen japanische Stimmen auftauchen, kurze Wortfetzen ohne Zusammenhang. Eine Frau wiederholt ein komplettes Stück lang: „Sore wa ... watashi!“ – „Das da, das bin ich!“. Welche Geschichte sich hinter den anderen Stimm- Samples verbirgt, bleibt unklar. Die Sprache aber harmoniert großartig mit den reduzierten Melodien und Rhythmus- Schleifen. Jenssen ist etwas Besonderes gelungen, ein atmosphärisch sehr dichtes Album. Genau wegen dieser Stimmung wurden Biosphere-Stücke immer wieder für Soundtracks benutzt. Auch im neuen Terrence-Malick-Film „The Tree of Life“ ist ein älteres Stück von Jenssen zu hören. Bei „N-Plants“ wird die Wirkung verstärkt durch das Wissen um die Katastrophen, die sich in japanischen Kraftwerken kurz nach Fertigstellung der CD abspielten.

Auch die Düsseldorfer Elektronikpioniere Kraftwerk haben sich in ihrem Song „Radioaktivität“ einst mit Atomkraft beschäftigt – allerdings eher blauäugig („Radioaktivität, für dich und mich im All entsteht“). Nach der Katastrophe von Tschernobyl änderten sie den Text ihres Klassikers, so dass er nun auch als kritischer Kommentar zu verstehen war. Geir Jenssen geht soundtechnisch und atmosphärisch subtiler zur Sache als Kraftwerk. Er widmet dem Kernkraftwerk Sendai einen Track, also dem Reaktor, der in der vom Tsunami am heftigsten gebeutelten Region Japans steht. Und auch mit den Reaktoren von Monju und von Ikatha beschäftigt sich je ein Lied. Doch Fukushima, das neue Wahr- und Warnzeichen in Sachen Technikgläubigkeit, taucht nicht auf – hier versagten die hellseherischen Kräfte des Geir Jenssen. Martin Böttcher

Biosphere: „N-Plants“ ist bei Touch/Cargo Records erschienen

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