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Kultur: Geiselnahme in der Türkei: Ruinen der Politik

Um 12.00 Uhr Ortszeit atmeten die Regierungsverantwortlichen in Moskau auf.

Um 12.00 Uhr Ortszeit atmeten die Regierungsverantwortlichen in Moskau auf. Das Geiseldrama im Istanbuler Swissotel war gerade unblutig zu Ende gegangen. Nach inoffiziellen Informationen sollen die 13 Kidnapper, die zeitweilig rund 100 Geiseln in ihrer Gewalt hatten, als Motiv das Vorgehen der russischen Truppen in Tschetschenien angegeben haben. Am Vortag hatten sich die Terroristen - ethnische Tschetschenen mit türkischem wie russischem Pass - vergeblich um ein Treffen mit dem türkischen Innenminister bemüht, bei dem sie Waffen für die Freischärler und ein größeres Engagement Ankaras verlangten, um Moskau an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Der Zeitpunkt für die Geiselnahme war kein Zufall. Am Wochenende jährte sich zum fünften Mal der Todestag von Dschochar Dudajew, dem ersten tschetschenischen Präsidenten, der im Herbst 1991 die Unabhängigkeit der Republik von Moskau ausrief. Dudajew war unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen. Die Mehrheit der Beobachter geht davon aus, dass Moskaus Luftwaffe seinen Wagen mit einer ferngesteuerten Luft-Boden- Rakete zerstörte. Wo er begraben wurde, ist nach wie vor ein Geheimnis. Der Großteil der Tschetschenen weigert sich ohnehin, an den Tod Dudajews zu glauben und sieht in ihm einen "entrückten Imam" - einen geistlichen und militärischen Führer, der kurz vor dem Jüngsten Gericht wieder erscheint und im mystischen kaukasischen Islam stets eine große Rolle spielte.

Einschlägige Gerüchte erhielten neuen Auftrieb, als Dudajews Schwiegersohn, Salman Radujew, einer der bekanntesten Feldkommandeure, von dem es zunächst hieß, er sei zusammen mit Dudajew umgekommen, wenige Monate später mit Kopfverletzungen und einem Glasauge wieder auftauchte. Radujew erklärte daraufhin, Dudajew halte sich im Ausland verborgen.

Anlässlich des Jahrestages war daher auch die von Moskau eingesetzte tschetschenische Regierung demonstrativ aus Gudermes nach Grosny zurückgekehrt, um zu signalisieren, sie habe die Situation in der Rebellenrepublik voll im Griff. Das Gegenteil ist der Fall. Um Tschetschenien ist es nur stiller geworden. Angeblich um Journalisten vor Terroristen zu schützen, behindert der Kreml seit Jahresbeginn sogar russische Kriegsberichterstatter. Ausländische Korrespondenten durften sich von Anfang an im Krisengebiet nur in Gruppen und unter Bewachung von Presseoffizieren bewegen. Das gleiche gilt für OSZE-Beobachter, die sich ebenfalls nicht frei bewegen können. Dabei hatte Moskau stets betont, die OSZE gelte es im Gegensatz zur Nato aufzuwerten.

Um die letzten kritischen Beobachter - westliche Hilfsorganisationen - aus der Region zu drängen, sollen nun die rund 180 000 Flüchtlinge in den Lagern der Nachbarrepublik Inguschetien zügig nach Tschetschenien deportiert werden. Obwohl das zerrüttete Land sogar nach Worten von Tschetschenen-Premier Stanislaw Iljasow momentan nicht in der Lage ist, größere Massen von Rückkehrern zu verkraften. Dennoch wurde Ende März in den meisten Lagern die Versorgung eingestellt, um die Flüchtlinge zur Rückkehr zu zwingen. Inguschenpräsident Ruslan Auschew klagte im hiesigen Fernsehen, die Zentralregierung habe seit Dezember keinen Pfennig mehr für den Unterhalt der Lager gezahlt. Putin verkündete schon im Februar das Ende der militärischen Operation in Tschetschenien.

Stimmungswandel im Volk

Den Rest der "Terroristen", deren zahlenmäßige Stärke Moskau seltsamerweise mit bis zu 5000 angab - genauso viel waren es nach offizieller Darstellung zu Beginn des Krieges im Oktober 1999 - sollen Innenministerium und Geheimdienste zur Strecke bringen. Als vorläufiger Termin für einschlägige Vollzugsmeldungen gilt der 15. Mai. Beobachter sind skeptisch. Täglich gibt es Überfälle auf russische Militärkolonnen. Die Stimmung der Bevölkerung, die sich anfangs von der zweiten Intervention Moskaus die Rückkehr zur Normalität versprach, schlug nach Massakern unter der Zivilbevölkerung und Plünderungen deutlich erneut zugunsten der Freischärler um.

Russland hat der Türkei nach dem gestrigen Anschlag lasches Vorgehen gegen tschetschenische Extremisten vorgeworfen. Erst im März war ein russisches Flugzeug über türkischem Luftraum entführt worden, und Anfang 1996, während Moskaus erstem Kaukasuskrieg, hatten türkische Tschetschenen die Schwarzmeer-Fähre "Avrasya", auf der hauptsächlich russische Einkaufstouristen waren, gekidnappt. Anführer war der erst im Dezember amnestierte Muhammed Tokcan, der auch den gestrigen Anschlag koordinierte.

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