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Kultur: Geld liegt in der Luft

Das Phantom der Börse: Über die Kunst, aus Illusionen Reichtum zu schöpfen – und alles wieder zu verlieren

Wenn ich von Ihnen eine Aktie für einen Euro über dem letzten Kurs kaufe, dann ist zu diesem unserem neuen Kurs die betreffende Aktiengesellschaft um so viele Millionen Euro mehr wert, als sie Aktien emittiert hat, und eine Unmenge Aktionäre, die wir beide nicht kennen, fühlt sich jetzt reicher. Wenn umgekehrt die Transaktion zu einem Euro unter Kurs stattfindet, dann sinkt die Börsenkapitalisierung der Firma, und es wird Vermögen der Aktionäre vernichtet. Wenn letzteres dramatische Ausmaße annimmt, dann bangen ganze Generationen um ihre Altersversorgung. Die Pointe solcher Transaktionen ist, dass in die Börse als System kein einziger Euro hineingekommen ist, denn zuerst hatten Sie die Aktie und ich das Geld, und danach habe ich die Aktie und Sie das Geld, aber alle Welt fühlt sich plötzlich reicher oder ärmer. Fühlt? Sind wir nicht tatsächlich reicher oder ärmer?

An dieser Stelle muss ich einen kleinen Exkurs machen, eine kurze Börsenschule sozusagen, um zu verstehen, warum ein Phantom, garniert mit einigen Narreteien, zu massiven Betrügereien und Bilanzfälschungen geführt und damit ernsten volkswirtschaftlichen Schaden angerichtet hat.

Sicher haben Sie schon einmal eine Aktie oder eine Rente besessen oder zumindest darüber nachgedacht, eine zu besitzen. Und sicher hat Ihnen ein freundlicher Berater erzählt, dass Aktien über längere Zeiträume hinweg eine höhere Rendite als Renten abwerfen. Vielleicht hat er auch noch intelligent über Renditedifferenzen und Risikoprämien geredet. Aber sicher hat er Ihnen nicht erzählt, dass beide Anlagemedien, obwohl sie permanent miteinander verglichen werden, eigentlich überhaupt nicht vergleichbar sind.

Denn auf der Rente, zum Beispiel einer Bundesobligation, steht drauf, dass Sie am Fälligkeitstag Ihr Geld wiederbekommen, hundert pro. Bei einer Aktie steht so etwas nirgendwo drauf. Bei der bekommen Sie, was sie zum Tageskurs wert ist, aber wieviel das ist, wissen Sie nicht. Bei einer Rente bekommen alle Besitzer am Fälligkeitstag ihren Einsatz zurück, sie wird wieder zu richtigem Geld, weil die Anleger sie nämlich zu einem garantierten Kurs an den Emittenten zurückverkaufen können. Genau das aber kann der Aktienbesitzer nicht. Er muss sich jemanden im Markt suchen, der ihm die Aktie abnimmt.

Damit sind wir bei dem wesentlichen Unterschied angelangt: Die Rente verschwindet bei Fälligkeit vom Markt und wird wieder zu Bargeld, man kann einfach auf ihr sitzen bleiben, Zinsen einstreichen und ansonsten keine Kurstabellen lesen, weil man den Rücknahmekurs, 100 Prozent nämlich, schon beim Erwerb kennt. Die Aktie aber zirkuliert weiter im Nullsummenspiel, und Bargeld hat nur der, der sie mehr oder weniger erfolgreich vekaufen kann; die jeweiligen Besitzer der Aktien haben bloß Luftgeld, um sich reich oder arm zu fühlen.

Wirkliches Geld ist nur das Geld selbst. Das klingt banal, muss aber immer wieder gesagt werden. Renten sind dem Geld nahe, weil sie ein zukünftiges Geld bei Fälligkeit garantieren, und Aktien sind ihm fern, weil man Geld erst nach dem Verkaufen hat, und wann der richtige Verkaufszeitpunkt ist und wieviel man dann bekommt, sagt einem niemand.

Die erste Konsequenz daraus ist, dass sich Aktien überhaupt nicht zur Altersversorgung eignen. Es ging zwar Jahrzehnte lang gut, aber nur, weil eine bestimmte Altersstruktur vorherrschte: einer steigenden Zahl von Arbeitenden und für ihre Altersvorsorge Aktien Kaufenden stand eine sinkende Zahl von Abhängigen, also Kindern und Rentnern, gegenüber. Es gab also mehr Aktienkäufer, die eine Altersvorsorge aufbauten, als Aktienverkäufer, die diese Altersvorsorge verbrauchten. Circa seit dem Jahr 2000 hat sich diese Tendenz umgedreht: Es sind jetzt die Rentner, also die Verkäufer, die zunehmen, und es sind die arbeitsfähigen Jahrgänge, die potenziellen Käufer, die abnehmen.

Ungefähr bis Ende des laufenden Jahrzehnts hält die Balance noch, weil in ihm schwache Geburtenjahrgänge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Rente gehen, aber danach wird es dramatisch. Wer dann von seiner Rente leben muss, dem ist – Riester hin, Modernismus her – keinesfalls anzuraten, zu den Verkäufern von Aktien zu gehören. Nichts gegen die Riester-Rente, aber bitte als Rente, nicht als Aktie. Wegen der Geld-zurück-Garantie.

Das einzig neue Geld, das in das Nullsummenspiel Aktienbörse hineinfließt, ist das Geld, das die Emittenten bekommen, wenn eine neue Aktie an die Börse geht oder das Aktienkapital einer bestehenden Aktie erhöht wird. Das heißt aber, dass die Schwankungen von Börsenkapitalisierungen sich in grotesker Weise von diesem einzig wirklichen Geldzufluss zum Emittenten unterscheiden. Weiter heißt es, dass ebendiese Emittenten desto mehr richtiges Geld von uns, den Käufern, einnehmen können, je grotesker diese Schwankung nach oben ist, und daher werden sie Strategien verfolgen, die den Aktienkurs erhöhen. Und wir finden das großartig, denn obwohl er nur Luftgeld ausweist, suggeriert unser Depotauszug Reichtum. Der Zweck der Firma soll nicht mehr sein, Produkte und Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, sondern höhere Börsenkurse zu erzielen. Auf neuhochdeutsch heißt das Shareholder Value.

Interessanterweise wurde dieser Begriff genau dann Mode, als es zu spät war und sich das demographische Verhältnis von Arbeitsfähigen zu Rentnern in sein Gegenteil verkehrte. Wenn die Zahl der Arbeitenden über die nächsten Jahrzehnte sinkt, dann kann auch das Bruttoinlandsprodukt kaum noch steigen, denn die Produktivitätsgewinne des Einzelnen werden dadurch aufgezehrt, dass es immer weniger solche Einzelnen gibt. Das begrenzt auch die Gewinnsteigerungserwartungen für die Firmen, in denen diese Einzelnen arbeiten, und damit die Kurssteigerungserwartungen für die Aktien der Firmen. Aber die Zahl der Menschen im Ruhestand, die Waren und Dienstleistungen konsumieren, nimmt dramatisch zu und zur Finanzierung dieser Altersversorgung wären Aktienkurse erforderlich, die es aus ökonomischen Gründen nicht geben wird.

Um die Jahrtausendwende befanden sich also die Börsen an einem demographischen Wendepunkt, der erstens unbewusst blieb und zweitens eine Reihe von Abwehrstrategien hervorrief, die alle mit Illusionen arbeiten. Bei diesem Vogel-Strauß-Spiel machten nicht nur die heute so verrufenen Bilanzfälscher mit, sondern auch die Anleger, selbst die Gesetzgeber drückten die Augen zu. Den Illusionen ist gemeinsam, dass sie Luftgeld produzieren, in den meisten Fällen völlig legal. In diesem Umfeld von ethischer und definitorischer Verwirrung, von unrealistischen Hoffnungen und modischem Herdentrieb, ist der Unterschied zwischen dem kriminellen Fälscher und dem erfolgreichen Manager oft nur schwer auszumachen, da eigentlich nur die Gesetzeslagen, nicht aber die Taten als solche sich unterscheiden.

Die Pensionskassen in USA haben in den letzten drei Jahren fürchterliche Verluste auf ihre Aktiendepots hinnehmen müssen. Ausgewiesen wurden diese nicht, außer als klitzekleine Fußnote im Klitzekleingedruckten der Geschäftsberichte. Ganz offiziell und im Einklang mit den Bilanzierungsregelungen durften sie diese Verluste durch einen angenommenen Gewinn ersetzen, sozusagen einen trendmäßig eigentlich zu erwartenden, aber leider nicht eingetroffenen Gewinn. Dieser Phantomgewinn der Pensionskasse wurde dann als Gewinn der Muttergesellschaft ausgewiesen. Im Schnitt betrug der angenommene Wertanstieg der Anlagen 9,5 Prozent im Jahr. Aber würde man zu Marktwerten und mit echten Pensionsverpflichtungen rechnen, dann wären die Gewinne der im amerikanischen S+P 500-Index vertretenen Aktien im Jahr 2001 69 Prozent geringer gewesen als ausgewiesen. Wenn solche Bilanzierungspraktiken aber legal sind, dann nimmt es nicht wunder, wenn außerhalb der Legalität die Delikte zunehmen.

Die Börseneinführungen war für viele Firmen ein Mittel, sich bei klammen Kassen eine neue Währung zu beschaffen, Aktien nämlich. Mit denen kann man andere Aktiengesellschaften kaufen, ohne echtes Geld hinlegen zu müssen. Und man kann die Schaffung dieser Währung beeinflussen, man druckt sie im Prinzip selbst, und keine Zentralbank und kein Blütenjäger hindern einen daran. Alles, was man braucht, sind Aktionäre, die einem in der Hauptversammlung neues Kapital genehmigen.

Wenn man sagt, man benötige dieses Kaptial, um seine Stellung im globalisierten Markt durch globale Zukäufe zu sichern, bekommt man diese Zustimmung in der Regel auch. Und dann passiert so etwas wie die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone. Kurse spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle, denn diese teuerste Übernahme aller Zeiten war nur in Luftgeldtermini teuer, nicht in richtigem Geld. Vodafone nahm ein Paket eigener Aktien, gab es den Aktionären von Mannesmann, vernichtete danach die Mannesmann-Aktien, und rein kapitalisierungsmäßig hatten die Aktionäre beider Firmen danach einen unveränderten proportionalen Anteil an der nun viel größeren Firma. Geld ist für solche Transaktionen nicht notwendig, das braucht man nur für die Abfindung des Vorstands.

Dem Erfindungsreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Es wurde sowohl in den USA wie in Europa Brauch, dass Firmen Anteile von Tochtergesellschaften an die Börse brachten; mit den bei der Mutter verbliebenen Aktien konnte diese dann auf Einkaufstour gehen. Solange die Aktien stiegen, war es den Anlegern recht. Sie forderten die Manager geradezu auf, etwas für die Aktienkurse zu tun, und die spielten auch bereitwillig mit, verknüpften sogar ihr Gehalt mit dem Aktienkurs. Die beliebteste Methode dabei war der Stock-Option-Plan. Manager erhalten Optionen auf Aktien der eigenen Firma als Gehaltsersatz, Luftgehalt sozusagen. Das erspart der Firma Gehaltsposten in der Gewinn- und Verlustrechnung. Aber irgendwann, wenn die Option ausgeübt wird, muss das Gehalt doch bezahlt werden. Nur zahlen dann auch die anderen Aktionäre, mit einer Verwässerung ihrer Anteile nämlich.

Luftgeld kann sich selbst vermehren, durch paradoxe Rückkopplungen von Anlagestrategien. Entscheidend dabei ist das so genannte Benchmarking, dass also Vermögensverwalter bestimmte Indices als Messlatte für den Anlageerfolg betrachten. Eine Aktie, die in einer solchen Benchmark ist, hat darin ein Gewicht, das ihrer Kapitalisierung relativ zu den anderen Aktien entspricht, und wird dann fast automatisch gekauft. Das hat mit der Qualität von Produkten und Management und den Märkten für die Produkte nichts zu tun, auch nicht mit der Qualität der Bilanz.

Natürlich möchte man am liebsten Halt! schreiben, weil das Ganze kein Spaß ist. Auf dem Spiel stehen die Lebensumstände von künftigen Witwen und Waisen, und auf dem Spiel steht auch der Konsens, dass es fair zugehen soll. Unter dem demographischen Strich geht es um einen Verteilungskampf, und bei diesem Verteilungskampf haben die Aktionäre die schwächeren und die Aktiengesellschaft und ihr Management die stärkeren Karten. Denn letztere haben richtiges Geld bekommen, die Aktionäre nur die Geldillusion. Richtiges Geld kriegen sie erst wieder beim Vekauf. Aus all dem lernt man, dass nicht die Käufer, sondern die Verkäufer an der Börse Geld verdienen. Und Verkäufer sind in erster Linie die Aktiengesellschaften selbst.

Es nimmt nicht wunder, dass bei dem allgegenwärtigen Druck auf die Aktiengesellschaften, höhere Kurse zu produzieren, auch die Sumpfblüten blühen mussten. Heute ist so viel erlaubt, dass das Unerlaubte zum Kavaliersdelikt verkommt. Wem will man Bewertungsfälschungen von Immobilienbesitz eigentlich verargen, wenn Falschbewertungen von Aktienanlagen völlig legal sind? Wie soll ein Wirtschaftsprüfer noch korrekt von unkorrekt unterscheiden, wenn die Trennlinien absurd sind? Und wird er sich darum bemühen, wenn er sich in einem Interessenkonflikt befindet, weil die Firma, die er prüft, gleichzeitig ein wertvoller Kunde ist?

Ja, man braucht unabhängige Wirtschaftsprüfer und Wertpapieranalysten. Und ja, Anleger sollten wieder zu Investoren werden, denen der anteilige Besitz an der Firma und die Dividende wichtig ist, nicht die Lufthoffnung der Spekulationsblasen. Und deswegen widme ich diesen Artikel dem Vorstandsvorsitzenden von Porsche, der sich standhaft den Benchmark- und Vierteljahresreporting-Spielen verweigert und sich statt dessen auf sein Geschäft konzentriert.

Der Autor ist Generalbevollmächtigter einer Wertpapierhandelsbank und aktiver Musiker. – Gekürzter Vorabdruck aus dem Kursbuch 152 „Blühende Bilanzen“, das in diesen Tagen erscheint (Rowohlt.Berlin, 184 S., 10 €)

Michael Zapf

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