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Hippie-Messe statt Hochamt. „Aktionisten“ des Meisters Nitsch im Einsatz. Foto: Hösl/dpa

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Kultur: Gelecktes Blut

Opernfestspiele München: Hermann Nitsch verschandelt Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“

Auf den Stufen des Nationaltheaters steht ein Bub, zwölf, 13 Jahre alt, ein Stück Pappe in der Hand: „Karte gesucht!!“. Es nieselt, ein Herr mit Schnauz tritt auf ihn zu: „I hätt’ oane für fuchzehn Euro.“ Der Bub: „Is des a Stehplatz?“ Der Schnauz: „Ja, Stehplatz, zwoater Rang.“ Der Bub: „Na, dankschön, I mag lieber sitzen.“

So er mit der zu ergatternden Karte keinen schwunghaften Handel treiben wollte, hat der Bub offenbar ziemlich genau gewusst, was ihn bei der diesjährigen Eröffnungspremiere der Münchner Opernfestspiele erwartet: ein echter Nitsch nämlich. Nackte, Aufgebahrte, Gekreuzigte. Ochsenblut aus vielen Körperöffnungen und Himmelsrichtungen. Zentnerweise Tomaten zum Zerstampfen, Zerquetschen und rituellem Salben der Nackten und Gekreuzigten. Ein großes „Schüttbild“, von den sogenannten Aktionisten des Meisters hergestellt, emsigen Helferlein, die hektoliterweise Neonfarben auf Leinwände schütten. Und Projektionen natürlich, aus dem niederösterreichischen Prinzendorf, wo Nitsch residiert und als erster letzter Gesamtkunstwerkler nach Wagner, Stockhausen und Schlingensief regelmäßig in Aktion tritt, zuletzt 1998 bei einem spektakulösen Sechstagespiel und 2005 am Wiener Burgtheater.

Die Projektionen zeigen Männer und Frauen, die bis zu den Achselhöhlen in tierischen Gedärmen und Eingeweiden graben. Glaubt man Nitsch, sind sie dabei um Katharsis bemüht, Reinigung, um Erlösung von allem nicht-sinnlichen, nicht-orgiastischen Übel dieser Welt.

Auch im Sitzen freilich ist dies alles nur schwer erträglich. Nicht weil es einen ekelte, dafür sind die Projektionen auf dem mächtigen Rundhorizont viel zu weit weg und in ihrem tabubrecherischen Impetus längst zu selbstläuferisch, zu redundant. Überhaupt ist das szenische Arrangement derart ästhetisch, ja derart durchästhetisiert, dass gar kein Raum mehr bleibt für Raues, Unbehauenes, wirklich Liturgisches, was hieße: in Echtzeit sich Vollziehendes. Man weiß nicht recht, woran das liegt: Hat sich die Bayerische Staatsoper unter Nikolaus Bachler einen so gelackten und geschleckten Ruf erworben, dass ihr buchstäblich nichts anderes mehr ins Haus kommt – oder hat der „Nietsch“ (wie der Österreicher sagt) jenseits seines auszukippenden Orgien-und-Mysterien-Setzkastens zu Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ schlicht nichts zu sagen?

Hygienischer jedenfalls, sauberer, ikonografischer als über die perfekt gepuderten Leiber dieser Nackten und Gekreuzigten ist selten Blut auf deutschen Opernbühnen geflossen. Und der Rest – die mal längs, mal quer gestreiften Kutten der Darsteller, die Blumen- und Vögelanimationen im zweiten Akt – demonstriert vor allem Ratlosigkeit, erinnert an eine Hippie-Messe oder an eine heftig aus dem Kraut geschossene „Zauberflöte“. Alles so hübsch bunt hier und einhellig-fröhlich, von sich selbst verzückt. Nur: Was hat das jenseits einer gewissen Oberfläche mit Messiaen zu tun, dem französischen Spiritualisten, Seriellisten, Synästhetiker, Ornithologen und Katholiken, dem es in seiner einzigen Oper um den „Exzess der Wahrheit“ in der Begegnung mit Gott geht, um die Überwindung aller geschaffenen Bildnisse, um Religion als Konsequenz aus jeglicher Kunst? Weltanschauung prallt hier auf Weltanschauung, Funke auf Funke, und keiner der beiden Prometheuse erweckt den Eindruck, er sei zum Nachgeben, zum Sich-Fügen bereit.

Hermann Nitsch, so viel ist sicher, wird noch in 100 Jahren im Immerselben wühlen, das haben Mysterienspieler so an sich. Einen wie ihn engagiert man nicht, wenn man nicht weiß, was man sich damit einhandelt (zu besichtigen auch bei Massenets „Hériodade“ an der Wiener Staatsoper oder Schumanns „Faust-Szenen“ in Zürich). Insofern ist die Besetzung ein Politikum. Wahrscheinlich war es so: Kent Nagano wünscht sich für München nichts sehnlicher als dieses Stück. Er, der mit dem Ehepaar Messiaen in Paris gelebt und 1983 an der Uraufführung des „Heiligen Franziskus“ mitgewirkt hat; der 1998 mit der Wiederaufnahme der Peter Sellars-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen Furore macht. Er, der wie kein anderer Dirigent derzeit mit dem eklektischen Sog dieser Musik, ihrer metaphysischen Mathematik, ihren irisierenden Rhythmen und gleißenden Farben umzugehen weiß.

Okay, sagt daraufhin der Wiener Nikolaus Bachler (der maßgeblichen Anteil daran hat, dass Nagano seine Position als Bayerischer Generalmusikdirektor 2013 aufgibt) – aber dann kriege ich den Nitsch. Und dann werden wir schon sehen, wer dieses Welt-gegen-Welt-Spiel gewinnt. Das Ergebnis indes ist so eindeutig nicht. Zwar werden Nagano, das Bayerische Staatsorchester und der fabelhafte Chor des Hauses (Einstudierung Sören Eckhoff) nach fast viereinhalb Stunden empathisch gefeiert, während Nitsch samt Team sein Fett weg bekommt. Das übliche Muster. Der gute Franziskus aber, der drei Akte und acht Tableaus lang Aussätzige küsst, in Ohnmacht fällt und den Vögeln predigt, rückt durch diese Spaltung in geradezu unüberwindliche Ferne.

Was soll einem dieser seltsame Heilige in Zeiten, in denen die katholische Kirche keinerlei gesellschaftliche Vorbildfunktion mehr besitzt? Und was heißt es eigentlich, wenn das Stück die Hälfte des Publikums negiert, die Frauen nämlich, indem es außer dem Engel (großartig frei, hoch musikalisch, im Timbre fast lasziv: Christine Schäfer) keine einzige weibliche Partie vorsieht? Man fragt sich und plagt sich und weiß mit dem ganzen mönchischen Gnadengewese – vor allem auf der Textebene – wenig anzufangen.

Selbst unter Avantgardisten galt Olivier Messiaen lange als Geheimtipp. Sich zu ihm zu bekennen, das hieß Kompetenz, Wissen, Eingeweihtsein. Musikalisch ist das sofort nachvollziehbar: Messiaens Klangwelten haben magisches Potenzial, das sich aus einer Bildhaftigkeit speist, die jedes Wort und jedes leibhaftige Bild überflüssig macht. Allein die mürben Sehnsuchtsstreicher zu Franziskus’ „La joie! La joie!“-Rufen im ersten Akt lösen Cluster an Emotionen aus. Überhaupt gerät diese Partitur leicht ins Schweben. Gegensätzliches, scheinbar lose nebeneinander Gestelltes und Geschraubtes stößt sich nicht ab, sondern strebt zueinander: Das Kirchentonartliche liebt den Bigband-Sound, das Schichten Bruckner’scher Quader verzehrt sich nach dem Klöppeln des Schlagwerks, das Ventilklappenspiel der Holzbläser flirtet mit den Heulbojenkurven der Ondes Martenot (eines frühen elektronischen Instruments), die singende Säge mit dem bohrenden Streicher-Unisono. Und Wumms in den Tutti-Schlüssen, martialische Fortissimo-Kräfte entfaltet das Ganze wahrlich auch.

Entsprechend monströs, in der Länge wie im Ausdruck, ist die Titelpartie. Dass Paul Gay sie weniger erotisch-ekstatisch anlegt als ökonomisch, sei gern verziehen. Auch das übrige Sängerensemble folgt diesem hoch konzentrierten, aber kaum wirklich beteiligten Eindruck.

In der Summe leistet diese Musik, was die Oper sich zur Aufgabe stellt: Sie ist mystisch, hält Einkehr bei sich selbst – und fordert ihren Hörer zu nichts anderem auf. Umso absurder erscheinen die besagten Nitschiaden oben auf der Bühne (die durch ausführliche Umbauten zwischen den einzelnen Tableaus überdies für programmatische Spannungsabfälle sorgen). Am Ende, zum großen Halleluja, wenn der Heilige Franziskus gestorben ist und ins Paradies eingeht, senkt sich aus dem Schnürboden eine Batterie schwerer Scheinwerfer herab und blendet den Saal, hell und immer heller werdend. Erleuchtung, sagt diese letzte Aktion, ist eine Frage der Wattzahl. Was sonst.

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