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Kultur: Genießt die Revolution!

100 Grad Berlin: Das Marathon-Festival der freien Szene im HAU und in den Sophiensälen.

Formiert sich da eine neue Occupy-Bewegung? „Yes, we camp“ lautet die Losung der Aktivisten, sie haben ein Zelt aufgestellt, Blockade-Workshops besucht und sich mit den einschlägigen Theoretikern von Brecht bis Zizek bewaffnet. Aber, ach, die Bühne ist kein Tahrir-Platz. „Ich möchte immer noch mit dir tanzen, ägyptisches Revoluzzertum“ heißt die Performance des Schweizer Kollektivs Neue Dringlichkeit, die das Dilemma der westlichen Künstlerjugend mit Haltungsproblemen umkreist: Während anderswo die relevanten Steine fliegen, sitzt man selber doch wieder nur im Theater. Das hat seine pfiffigen Momente, aber die sind so flüchtig wie die arabischen Frühlingsgefühle. Die Dringlichkeits-Performer lassen sich am Ende selbst zur Ader und malen ein großes Blutbild, auf dem „Enjoy the revolution“ steht. Es wird für 66,50 Euro versteigert.

Zum neunten Mal findet das Festival „100 Grad Berlin“ statt, der viertägige Freie-Szene-Marathon am HAU und in den Sophiensälen. Tendenzen sind in diesem Overkill der schmal budgetierten Kunst kaum auszumachen. Aber in diesem Jahr liegt eine Sehnsucht in der Luft. Nach Aktion. Nach Radikalität und Bedeutung. Nach politischem Theater.

Das Kollektiv Raumstrategien nennt seine Installation „Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“. In der Ankündigung heißt es: „Wir weigern uns, Gehorsam weiterhin als sogenannte Freiheit anzuerkennen“, und das klingt aufklärerisch gut, es wird ja heute so vieles verwechselt: Alkoholismus mit Durst, Schwachsinn mit Bedeutung. Die Performance besteht darin, dass man sich einen Liegestuhl auf der Probebühne des HAU 3 aufstellt. Dann werden die Mündigkeits-Reflexe gekitzelt, weil nichts passiert und man eigenverantwortlich den Stuhl wieder zusammenklappen und gehen kann. In den Sophiensälen steht dagegen der Künstler Carlos Chacón del Pino im zweiten Stock und sinniert in der Performance „Mein 5 Euro T-Shirt“ über Textilien, die in Bangladesch gefertigt wurden und über Bier, das den Kopf betäubt. Er verkündet, ein Revolutionär wie Che Guevara sein zu wollen, zieht sich aus und brüllt ein Lied, in dem die Zeile „mir scheiße egal“ verkommt. Griffige Identifikations-Angebote, wohin man blickt.

Unten im Hof parkt ein altes Auto, auf dessen Rückbank man sich zu viert quetscht. Das Sardinenbüchsengefühl des totalitären Staates! Die Gruppe Idaperforms lädt ein in „Elena Ceaucescu’s Wunderkammer“, zwei junge Frauen auf den vorderen Sitzen geben die senile Diktatorengattin und ihre Gouvernante. Kekse und Schampus werden gereicht, sozialistische Hymnen gespielt. Eigentlich ganz gemütlich, wenn man nur mehr Platz hätte.

„100 Grad Berlin“ – das sind 150 Gruppen, mehr als ein Dutzend Spielorte, permanentes Parallelprogramm. Jeder sieht ein anderes Festival. Im Shuttle, der zwischen HAU und Sophiensälen pendelt, schwärmen zwei Besucherinnen aus Osteuropa von diesem „crazy dinner at the Ministry of Finance“. Currywurst gab es dort und einen Vortrag über Jazz in der DDR. Im Finanzministerium verstehen sie zu feiern. Und im Theater? Direkt aus dem Shuttle in „Das sinnlose Projekt“ der Kompanie Verwöhnte Kinder. Zwei Künstlerinnen, die auf dem Tisch sitzen und eine halbe Stunde lang aufzählen, was sinnlos ist. Eigentlich alles. Nihilismus, Dekadenz, Diktaturenflirt – bestimmt wird hier überall Christian Kracht gelesen.

Aber halt! Natürlich bietet das Festival mehr als das. Man kann eine Dame anrufen, die sich puffmäßig im Fenster des HAU 1 räkelt, und dann singt das Callgirl durchs Telefon ein schönes Lied. Man kann sich ein bezauberndes Theaterstück über Hasen und Hühner ansehen – in einem Straußenei! Und man bekommt Lebenshilfe, von der Formation „articipation“. Die bietet im Sophiensäle-Foyer günstig „Businesscoaching und Wahrsagerei“ an. Dem Reporter, der in der Sinnleere nach neuen Berufsperspektiven sucht, raten sie, eine Schreibwerkstatt mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien zu gründen.

Doch zurück zur Politik. „Polis3000“ hat das Duo Markus&Markus seinen brachial-humorigen Aufwasch-Abend genannt, der am HAU ein echter Festival-Hit war. Die beiden kommen aus Hildesheim, und dass an der dortigen Uni ein gewisser Carsten Maschmeyer Ehrendoktor ist, dient diesen Jedi-Rittern der Comedy als Startschuss zu einem Parforceritt durch den Celebrity-Kosmos des Christian Wulff, der Vroni Ferres und ihres Gatten. Korruptions-Kabarett, Live-Kotzen – hier ist alles drin. Noch lange klingt der muntere Chorus im Ohr, der das politische Paradigma von morgen formuliert: „Das ist der Rhythmus, bei dem jeder mit muss – die Zukunft braucht den Absolutismus!“ Patrick Wildermann

Noch heute ab 16 Uhr, Sophiensäle und HAU. Preisverleihung um 23.30 Uhr, Sophiensäle. Infos: www.hebbel-am-ufer.de

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