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Chronist deutscher Geschichte. Der Berliner Schriftsteller Friedrich Christian Delius.

© Teutopress

Georg-Büchner-Preis: Friedrich Christian Delius: Der kühle Kopf

Schreibend befreite er sich von Stottern und Stummsein. Für allzu Gefühliges ist er nicht zu haben - er bleibt kühl: Friedrich Christian Delius erhält den Georg-Büchner-Preis.

Von Gregor Dotzauer

Im April 1970 schreibt Friedrich Christian Delius an Nicolas Born, dass der gemeinsame Freund Hans Christoph Buch demnächst in einer „grundsätzlichen Rezension klären“ werde, wie die „grundsätzlichen Dinge“ zwischen den Bornschen und den Deliusschen Gedichten lägen. „Die grundsätzliche These“, so Delius, „soll sein, Born fehle es an Objektivität und Delius an Subjektivität, und damit wären unsere grundsätzlichen Probleme ja wohl geklärt.“ Der kleine Schriftverkehr, um den sich noch viele weitere Einlassungen gruppieren, zeugt nicht nur von der heimeligen Enge, die das Westberliner literarische Leben einmal ausmachte und zwischen dem Buchhändlerkeller in der Görresstraße, dem Bundeseck am Friedrich-Wilhelm-Platz und der Dickhardtstraße aufzuspüren war. Er trifft auch etwas von den Fliehkräften, die mal in Richtung Agitprop, mal in Richtung Neue Subjektivität gingen, im Angesicht der allzu schlichten Frage nach Individuum oder Gesellschaft jedoch alle Beteiligten schwindeln lassen mussten.

Delius, Born und Buch kannten einander schon vom „Wahlkontor Deutscher Schriftsteller“, das 1965 im Auftrag der SPD Wahlkampfslogans für Willy Brandt ersann. Sie hatten wie viele andere gegen den Vietnamkrieg protestiert und verabscheuten das Monopol von Axel Springer. Den kühlsten Kopf behielt dabei immer Delius. In diesem Sinn war er tatsächlich ein „objektiver“ Schriftsteller: für Inwendiges und Gefühliges nicht zu haben, dafür der ironischen Analyse sprachlicher Fertigteile zugeneigt.

Er blieb für alles Politische bis weit in die 70er Jahre aufgeschlossen, weil er damit auch als klassenkämpferischer Geist so frei umgehen konnte, wie es größeren Hitzköpfen verwehrt blieb. Die Lässigkeit, mit der er 1965 in seinem Lyrikdebüt „Kerbholz“ die Stimmung der Zeit verdichtete, muss man erst einmal hinbekommen: „Höflich tritt ein / der Feuerwehrmann / und fragt, ob es brenne. / Nein, sage ich, vielen Dank, / aber vielleicht / versuchen Sie’s morgen noch einmal.” Sie wurde im Jahr darauf ergänzt von einer fulminanten „Dokumentar-Polemik“ unter dem Titel „Wir Unternehmer“, die ihn als Person jedoch unbeteiligt ließ.

Was hatte er getan? In einer versifizierten Fassung von Protokollen des CDU/CSU-Wirtschaftstages 1965 zitierte er die Phraseologie der Redner in ihrer ganzen Dumpfheit - mit dem ausdrücklichen Verweis, dass „Stellen, die besonders bösartig entstellt scheinen, durchweg originalgetreu wiedergegeben“ seien. Ob es um die „Redressierung des sozialen Übermuts“ geht oder um die Sehnsucht nach einer „ethischen Kraft für das Volksganze“: Er häufte Beleg auf Beleg, um sich das Verfahren der dokumentarischen Selbstentlarvung in der fiktiven Festschrift „Unsere Siemens-Welt“ (1972) satirisch anzueignen und nur noch so zu tun, als handle es sich um die Gratulationen führender Siemens-Manager. Das Buch trug ihm einen jahrelangen Prozess ein, der zwar mit einem Vergleich und der Schwärzung einiger weniger Stellen endete, aber den Rotbuch Verlag, der ihn führte, fast ruiniert hätte.

Das alles scheint lange her zu sein, aber der Erzähler, der aus dem Lyriker und Dokumentarsatiriker wuchs, ist noch aus demselben Holz. Delius macht bis heute den Eindruck, als sei er von allzu heftigen Affekten verschont. Sein Talent liegt im stofflich Vorgefundenen, nicht im Visionären – und in der nüchternen Ausformung einer Sprache, die zwar die Pointe kennt, nicht aber das Pathos. Friedrich Christian Delius, der in diesem Jahr den mit 50 000 Euro dotierten Büchner-Preis der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung erhält, ist bei allem revolutionären Impetus, der in seiner bürgerlichen Abgeklärtheit vielleicht noch wohnt, von den Finsternissen und Erregungspotenzialen, den halsbrecherischen Wirklichkeitsimaginationen seines hessischen Landsmannes doch weit entfernt.

Die Begründung ordnet ihn deshalb auch ein wenig anders ein. „Als kritischer, findiger und erfinderischer Beobachter“, heißt es darin, „hat er in seinen Romanen und Erzählungen die Geschichte der deutschen Bewusstseinslagen im 20. Jahrhundert erzählt – von der Vorgeschichte der NS-Zeit über die Zeit der Teilung bis in die unmittelbare Gegenwart. Seine politisch hellwachen, ideologieresistenten und menschenfreundlichen Texte loten die historischen Tiefendimensionen der Gegenwart aus. Seiner souveränen Erzählkunst gelingt es, eine manchmal satirische Beobachtungsschärfe zu verbinden mit einer humanen Sensibilität, die seine Figuren oft decouvriert, aber nie denunziert.“

Außerdem charakterisiert ihn die Akademie wegen des „Spaziergangs von Rostock nach Syrakus“ (1995) als Nachfahren Seumes durch die „rhythmische Phrasierung von Zeit und Geschichte“ in den Erzählungen „Die Birnen von Ribbeck“ (1992) und „Bildnis der Mutter als junge Frau“ (2006) als einen von Wolfgang Koeppen. Ein Vergleich, der Delius’ Temperament bei allen Sympathien, die er für den von Faulkners Bewusstseinsströmen inspirierten Kollegen in dieser Zeitung einmal bekundet hat, nicht gerecht wird.

Delius, 1943 als Sohn eines zur Wehrmacht verpflichteten Hilfspredigers der Evangelischen Kirche in Rom geboren und im Nordhessischen aufgewachsen, hat sich nach eigenen Worten schreibend von seinem Vater befreit und aus dem Stottern und der Stummheit seines Provinzdaseins davongemacht. Die autobiografisch geprägte Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) legt, 40 Jahre nach dem Wunder von Bern, davon Zeugnis ab. In Berlin, wo er an der FU und der TU Germanistik studierte und mit der Arbeit „Der Held und sein Wetter – Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus“ bei Walter Höllerer, dem Gründer des Literarischen Colloquiums, promovierte, lebte er auf. Noch während des Studiums hatte er Klaus Wagenbach kennengelernt, der ihn ab 1970 als Lektor in seinem Verlag beschäftigte, bevor er sich 1973, als es zur spektakulären Abspaltung des Rotbuch Verlags kam, mit ihm entzweite.

Lange bevor der Deutsche Herbst im Kino Mode wurde, nahm er sich des Stoffes an und schuf eine Romantrilogie, die auch von dokumentarischen Spuren lebt. „Ein Held der inneren Sicherheit“ (1981) porträtiert den karrieristischen Referenten eines Alter Egos von Hanns Martin Schleyer, der sich in seiner eigenen propagandistischen Rhetorik verfängt. „Mogadischu Fensterplatz“ (1987) entwirft das Protokoll einer jungen Biologin und ihrer Entführung mit der „Landshut“. „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ (1992) schließlich ist ein multiperspektivisches, hochgradig fragmentiertes Montagewunder, in dem eine Andreas-Baader-Figur und eine Horst-Herold-Figur einander tief verbunden sind.

Mit Delius, der zwischen Berlin und Rom pendelt, wird ein Schriftsteller ausgezeichnet, der bei Publikum und Kritik fest verankert ist. Wenn er nach dem Joseph-Breitbach-Preis 2007 nun auch noch Deutschlands angesehensten Literaturpreis erhält, ist dies die vorläufige Krönung eines umfangreichen Lebenswerks, nicht aber eine Gelegenheit, auf jemanden aufmerksam zu machen, der erst noch bekannt gemacht werden müsste.

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