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Kultur: Gerhard Riebicke: Wir sind nackt und nennen uns Du. Die Galerie Picture Perfect zeigt eine Retrospektive des Fotografen

Wer sich in der brandenburgischen Sommerfrische dieser Tage zum Wasser begibt, der trifft auch heute noch auf die Sedimente einer Bewegung, die sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert entfaltet hat: die Freikörperkultur. Draußen in der freien Natur gibt sich der Städter so, wie Gott ihn geschaffen hat: nackt!

Wer sich in der brandenburgischen Sommerfrische dieser Tage zum Wasser begibt, der trifft auch heute noch auf die Sedimente einer Bewegung, die sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert entfaltet hat: die Freikörperkultur. Draußen in der freien Natur gibt sich der Städter so, wie Gott ihn geschaffen hat: nackt! Was in der Prüderie der Adenauer-Zeit in der entstehenden Bundesrepublik in der Versenkung verschwand, erfreute sich in den Ostseebädern und Seen der DDR einer ungebrochen großen Beliebtheit und knüpfte im wahrsten Sinne des Wortes nahtlos an die Reformbewegungen der zwanziger Jahre an. Nackt soll an Licht und Luft ein Körpergefühl wieder entwickelt werden, welches den Bewohnern der urbanen Metropolen im Laufe der Jahre abhanden gekommen war. Das Motto "Zurück zur Natur" der Naturismus-Bewegungen ging weit über die Ziele heutiger hedonistischer Freizeitgestaltung hinaus und verband Nudismus mit Sozialutopien und lebensreformerischen Ansprüchen.

Wiederentdeckung eines Genres

Dem bekanntesten Chronisten dieser Bewegungen, Gerhard Riebicke, widmet die Galerie Picture Perfect nun eine Retrospektive. Der Ausstellung ging ein enormer Rechercheaufwand voraus, denn sein fotografisches Werk ist in großen Teilen zerstört: Ein Teil von Riebickes Bildarchiv fiel einem Bombenangriff zum Opfer, vieles landete nach seinem Tode im Jahr 1957 mangels Interesse schlicht auf dem Müll. Die ausgestellten Werke (Vintage Prints, zwischen 1600 und 6000 Mark) wurden von den Galeristen in einer zehnjährigen Sammeltätigkeit zusammengetragen und dokumentieren nun die Ästhetik von Körperbildung und Nacktkultur in den zwanziger und dreißiger Jahren.

Riebickes Fotografien haben das Erscheinungsbild der Freikörperkultur nach außen geprägt und die Bildästhetik des gesamten Genres revolutioniert. Er zeigt einzelne Figuren oder Figurengruppen vor einem neutral gehaltenen Landschaftshintergrund. Die Differenzierung von Figur und Grund gestaltet sich über die Wasseroberflächen der Brandenburger Seen, die subtil in Unschärfe getaucht zur Hintergrundfolie reduziert werden. Oft liegt die Horizontlinie tief am unteren Bildrand, so dass sich die Figuren gegen den wolkenlosen Himmel abzeichnen. Das Naturschauspiel weicht zurück vor der Idealpräsentation des Körpers. Ribickes Lichtführung bedient sich ausschließlich des natürlichen Lichts und variiert präzise und sparsam den Einsatz von Schatten. Die Fotografien sind einer sachlichen Ästhetik verpflichtet, die fern der formalen Experimente ist, die zeitgleich von Fotografen etwa im Umkreis des Bauhauses durchgeführt wurden. Ein Großteil der ausgestellten Fotografien zeigt eine Auseinandersetzung mit dem Ausdruckstanz Rudolf von Labahns, der über die Theorie der Bewegungsanalyse als Gründervater des modernen Tanztheaters gelten kann. Riebicke dokumentierte vor allem die Arbeit der Labahn-Schule Hertha Feists, deren Tanzposen und Sprünge den Reiz vieler Fotografien ausmachen.

Mit seinen Studien lieferte der Fotograf auch das Bildmaterial für die Publikationen von Adolf Koch, dem sozialdemokratischen Apologeten der Nacktkultur. In seinem Buch von 1932 "Wir sind nackt und nennen uns Du!" vermischen sich medizinische und aufklärerische Positionen, die sich um eine proletarische Jugend bemühen.

Aber auch die Schattenseite der Moderne ist mit der Freikörperkultur verknüpft, wie etwa der 1925 produzierte UFA-Film "Wege zur Kraft und Schönheit" belegt, der in der Literatur als Wegbereiter einer faschistischen Filmästhetik gilt und für den Riebicke als Standfotograf tätig war. Auch für die völkisch orientierte Publikation von Hans Surén "Der Mensch und die Sonne" hat er die Illustrationen besorgt. Riebickes Blick auf den unbekleideten Körper soll hier helfen, die Doppelmoral von Prüderie und Voyeurismus in der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden.

Jenseits dieser offiziellen Botschaft zeichnen sich die Fotografien aber durch eine latente Doppelfunktion aus: Einerseits richtet sich der begehrende Blick auf durchtrainierte, schöne und vor allem nackte Körper, andererseits versucht die fotografische Inszenierung den Körper als kinetisches von sexuellen Konnotationen abstrahiertes Zeichen in den Dienst einer sozialreformerischen Bewegung zu stellen. Doch wie jeder weiß, finden sich in den Gefilden der Freikörperkultur nicht nur schlanke, sportliche Menschen, sondern eben alle Körpertypen, aus der sich eine menschliche Gesellschaft zusammensetzt. Dazu, und das ist sicherlich auch für die zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts anzunehmen, gehören auch die Häßlichen, Dicken, Alten und Unsportlichen.

Ideale Körper

Riebickes Ausschnitt zeigt ein inszeniertes Reservat der Befreiung, dessen wohlgestaltete Menschen keinen Querschnitt der Freikörperkultur zeichnen, sondern das fiktive Ideal eines fröhlichen und jungen Menschenbildes propagieren. Der schöne Körper wird zum Zeichen einer emanzipatorischen Idee. Die ambivalente Darstellung eignet sich deshalb genauso für die Illustration sozialdemokratischer Ideen wie für die völkischen Ideale des Sonderbeauftragten der NS-Sportorganisation Hans Surén. Was einer sozialen Reform nützen soll, dient so auch der nationalsozialistischen Bewegung. Aber diese scheinbare politische Ambivalenz der Bilder belegt vielleicht auch nicht mehr als die Willkür, mit der verschiedene politische Organisationen auf Kunst instrumentalisierend zugreifen und damit den ästhetischen Eigensinn dieser Bilder verfehlen, die mehr sind als eine bloße Dokumentation einer politischen Botschaft.

Matthias Mühling

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