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Gerhard Seyfried lebt seit 1976 in Berlin.

© Westend-Verlag/Ziska Riemann

Gerhard Seyfried zum 70.: Zwille sein Milljöh

Kreuzberger Urgestein aus Bayern: Der Zeichner Gerhard Seyfried wird 70 und veröffentlicht seinen ersten neuen Comic seit acht Jahren.

Was ist nur aus Berlin geworden? Gentrifizierer und Globalisierer haben die Stadt fest im Griff, die Polizei räumt das letzte besetzte Haus – und dann wird auch noch die Sozialhilfe für Comicfiguren gestrichen, weil die nicht altern und dem Staat ewig auf der Tasche liegen könnten. Doch das bremst den Alt-Anarcho Zwille mit seiner an einen Igel erinnernden Strubbelfrisur nur vorübergehend, und irgendwie schaffen er und seine gezeichneten Mitstreiter es auch diesmal wieder, doch noch das richtige Leben im falschen System zu finden.

Willkommen in Gerhard Seyfrieds Welt. In seinem neuen Comic „Zwille“ entwirft der Autor und Zeichner ein weiteres Mal ein kritisch-liebevolles Bild seiner Heimatstadt. Der ist der aus Bayern stammende Wahl-Berliner seit 1976 mit inniger Zuneigung und spätestens seit dem Mauerfall mit immer wieder aufwallender Enttäuschung verbunden. An diesem Donnerstag wird Seyfried 70 – und sein soeben erschienener neuer Comic liest sich ein wenig wie eine als Bilderzählung verfasste Laudatio, die der Jubilar sich gönnt.

Denn die in diesem 44-Seiten-Album nachgezeichnete Odyssee seiner Hauptfigur Zwille, die seit den späten 70er Jahren zum festen Personal Seyfrieds gehört, ist auch eine Rückschau des Autors auf seine eigene Geschichte. Mit den Geschichten von Zwille und Co. wurde er in den 80er Jahren zum Star der linksalternativen Szene und bekanntesten deutschen Comiczeichner. Seine Alben durften in keiner linken WG fehlen, seine knubbelnasigen Polizisten, Freaks und Weltverbesserer wurden ungezählte Male auf Flugblättern und in Schüler- und Studentenzeitungen nachgedruckt.

Die Schweiz konnte ihn nicht halten

Doch Ende der 90er Jahre kehrte Seyfried den Comics den Rücken, vor allem wegen der schlechten Bezahlung, die dem enormen Arbeitsaufwand für diese Kunstform nicht mehr gerecht wurde. Und 2003 setzte er sich dann sogar mal ganz aus Berlin ab und zog ins Schweizerische Solothurn. „Das alte Flair“ Berlins sei für ihn verschwunden, begründete er den Wechsel. Der Verkehr, der Dreck, die zunehmend monokulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung Kreuzbergs – „ich fühle mich hier einfach nicht mehr heimisch“, sagte er damals. Ein Jahr später kehrte er allerdings zurück an die Spree. Seitdem lebt er in Schöneberg.

Ab 2003 machte sich Seyfried als Autor historischer Romane einen Namen, in denen er die deutsche Kolonialgeschichte und den Kampf der Stadtguerilla in der Bundesrepublik der 70er Jahre kritisch aufarbeitet. Als Zeichner trat er lange fast nur noch mit Auftragsarbeiten in Erscheinung, seine Wahlplakate für Christian Ströbele, die er aus Sympathie für den Grünen zeichnete, wurden zu Sammlerobjekten. „Ströbele ist der Einzige, für den ich so was tun würde“, sagte Seyfried. Doch nach dem Abschied des Grünen-Urgesteins von der Politik orientierte er sich um: Zur Bundestagswahl 2017 zeichnete er ein Plakat für die Kreuzberger Linkspartei.

Comics werden als "Graphic Novels" aufgewertet - und verwertet

Einen Ausflug in die Comic-Welt unternahm Seyfried zuletzt vor acht Jahren, als er zusammen mit seiner langjährigen Zeichner-Gefährtin Ziska Riemann die Medien- und Politsatire „Kraft durch Freunde“ veröffentlichte. Deren kritisch- spöttischer Blick aufs aktuelle Zeitgeschehen prägt jetzt auch „Zwille“. Vorangetrieben wird der neue Plot aber nicht von sozialen Umwälzungen oder politischen Verschwörungen. Neben gierigen Investoren und korrupten Politikern verkörpert bei „Zwille“ vor allem die „Graphic Novel Authority“ das Böse: ein Startup- Unternehmen, das der Kunstform Comic ihren rebellischen Geist austreiben und sie den Regeln von Markt und Mainstream unterordnen will. Damit greift Seyfried einen Diskurs auf, der vor gut zehn Jahren durch die zunehmend erfolgreiche Vermarktung vermeintlich anspruchsvollerer Comics als „Graphic Novels“ ausgelöst wurde – eine Entwicklung, die manche Vertreter der Underground-Comicszene als Ausverkauf ihrer Kunstform anprangern.

Dazu kommt eine weitere Erzählebene, die das Buch vor allem für langjährige Seyfried-Fans zur Fundgrube macht: Zwille, für den das Comicfigurdasein nur ein Job ist („Ich hab Gärtner gelernt“), agiert nebenher auch als eine Art Reiseführer durch Seyfrieds Leben, dessen gezeichnetes Alter Ego in dem Album als der erfolgreiche Comiczeichner Seyfretti auftritt. So kramt Zwille an einer Stelle alte Schwarz-Weiß-Bilder aus seiner Latzhose, auf denen frühe Bildwitze Seyfrieds aus dem Jahr 1975 zu sehen sind. In Seyfrettis Wannsee-Villa, in der Zwille nach der Räumung seines Besetzer-Hauses vorübergehend unterkommt, schmücken alte Seyfried-Zeichnungen die Wände. Und immer wieder greifen Zwille und sein Kumpel McÖko Elemente aus Seyfried- Klassikern wie „Wo soll das alles enden“, „Das Schwarze Imperium“ oder „Flucht aus Berlin“ auf und zitieren Wortwitze des Autors wie „Pop! Stolizei!“.

Am Schluss von „Zwille“ suchen die Hauptfiguren ein weiteres Mal ihr Heil in der Flucht aus Berlin. Doch wer Gerhard Seyfried kennt, der darf annehmen: Damit wird die Geschichte noch lange nicht zu Ende sein.

Gerhard Seyfried: Zwille, Westend-Verlag, 64 Seiten, 16 Euro

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