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Kultur: Gesänge von Fauna und Flora

„Istanbuler Deklaration“: Die Unesco will das nicht-materielle Kulturerbe schützen

Von Bernhard Schulz

Vor 30 Jahren verabschiedete die Unesco ihre Welterbe-Konvention zum Schutz von herausragenden Bauwerken sowie Kultur- und Naturlandschaften. Nach anfänglichem Zögern ist die Aufnahme in die Welterbe- Liste mittlerweile überaus begehrt.

Die westliche Hemisphäre nimmt beim baulichen Welterbe eine Vorrangstellung ein. Doch das Konzept des materiellen Erbes bevorzugt den Okzident. Insbesondere Kulturen der südlichen Erdhalbkugel besitzen deutlich weniger bauliche Denkmäler, aber darum nicht minder eine bewahrenswerte Vergangenheit. Ihre kulturelle Überlieferung vollzieht sich weit stärker in Sprache, Sitten und Gebräuchen, in Gesang, Tanz und Riten.

Dieses Erbe zu schützen, muss ein Anliegen der universal ausgerichteten Unesco sein. In Istanbul fand eine Konferenz der Unesco-Mitgliedsstaaten zum Thema „Immaterielles Kulturerbe – Spiegel der kulturellen Vielfalt“ statt. Einmal mehr präsentierte sich die Türkei als großzügiger Gastgeber– und als Scharnier zwischen Westen und islamischer Welt, die mit entsprechend kopfstarken Delegationen auftrat. Der „Runde Tisch“, so die offizielle Bezeichnung der Konferenz, hatte zum Ziel, über eine Eingrenzung des weit gespannten Begriffs des „immateriellen Erbes“ hinaus Möglichkeiten des Schutzes und der Bewahrung zu erörtern – und nach dem Willen vieler der insgesamt 109 Teilnehmerstaaten auf eine Konvention ähnlich der Welterbe-Konvention hinzuarbeiten.

So weit ist es noch lange nicht. Diskussionen, diplomatisch vornehm im Zaum gehalten, entzündeten sich erst in der Schlussrunde, als das später „Istanbuler Deklaration“ genannte Abschlusskommuniqué beraten wurde. Die europäischen Staaten jedenfalls zeigten dem Drängen zahlreicher Kulturminister vorwiegend aus afrikanischen Staaten, sogleich auf eine verbindliche Konvention zuzusteuern, die kalte Schulter.

Die Sache selbst scheint höchst plausibel. Wenn die Unesco ihre eigene Deklaration über kulturelle Vielfalt aus dem Jahr 2001 ernst nimmt, muss sie über den Schutz physischer Denkmale hinaus das ganze Spektrum kultureller Überlieferungen in den Blick nehmen. „Im Zeitalter der Globalisierung stehen viele Formen des Kulturerbes in Gefahr, unterzugehen, bedroht von kultureller Vereinheitlichung, bewaffneten Konflikten, Tourismus, Industrialisierung, Landflucht, Migration und Umweltzerstörung“, heißt es in der „Ersten Proklamation von Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“, die die Unesco im Mai vergangenen Jahres verkündet hat. Treibende Kraft war damals wie auch jetzt in Istanbul der japanische Unesco-Generaldirektor Koïchiro Matsuura, in dessen Heimat es bereits seit einem halben Jahrhundert ein entsprechendes Schutzgesetz gibt.

Ein Fall für die Liste: das Staatsheater

Auf der Liste der ersten 19 „Meisterwerke“, ausgesucht von einer Jury unter Vorsitz des spanischen Schriftstellers Juan Goytisolo, findet sich denn auch das japanische Nôgaku-Theater, ebenso wie das in Sanskrit gespielte Kutiyattam-Theater aus dem südindischen Kerala oder die chinesische Kunqu-Oper. Bei diesen drei Beispielen handelt es sich um überaus kodifizierte Formen kultureller Praxis, die in ihren Heimatländern unangefochtene Wertschätzung und Förderung genießen. Da könnte sich womöglich auch Antje Vollmer mit ihrer Idee, die deutsche Theaterlandschaft unter Unesco- Schutz zu stellen, ermutigt fühlen.

Schwieriger ist es, sich einen Schutz für die gleichfalls in die Erst-Liste aufgenommene Gbofe-Musik der westafrikanischen Afounkaha, die Hudhud-Gesänge der philippinischen Ifuago oder die an Ausdrücken für Fauna und Flora unvergleichlich reiche Sprache der südamerikanischen Zápara zu denken. Oder der georgische Polyphonalgesang – wird er nicht durch ebenden Tourismus überleben, den die Unesco-Proklamation als eine ihrer sieben Plagen ausgemacht hat? Und das Mysterienspiel im spanischen Elche – könnte einem da Oberammergau in den Sinn kommen? Wo beginnt die universale Bedeutung, die die Unesco als Maßstab anlegen muss, um die Schutzwürdigkeit von lokal begrenzten Traditionen zu begründen?

Darüber zu diskutieren, wäre jede Unesco-Konferenz wert. Doch da es sich bei der Unesco um eine unendlich komplizierte Organisation handelt, kam die Istanbuler Runde über Statements kaum hinaus. In der Sache selbst, der Würdigung und dem Schutz des nichtmateriellen Erbes, gab es keinen Dissens. Man durfte froh sein, zur Abwechslung wenigstens die Ausfälle des Irak gegen das US-Embargo zu hören oder das Insistieren der im Ayatollah-Gewand auftretenden Iraner auf der Nennung der Religion als Quelle kultureller Überlieferung. Meinungsverschiedenheiten blitzten erst bei der Forderung nach einer internationalen Konvention auf: Sie wurde auf Druck der Europäer lediglich als Möglichkeit erwähnt, nicht jedoch ausdrücklich gefordert. Die Vertreter der Dritten Welt ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich von einer Konvention auch materiellen Beistand erhoffen. Fürs Erste muss allerdings die „Istanbuler Deklaration“ genügen. Sie stellt fest, dass sie „vielfältigen Formen des immateriellen Erbes“ eine der „wesentlichen Quellen der kulturellen Identität darstellen“, und beleuchtet zugleich deren „außerordentliche Verwundbarkeit“, die staatliches Handeln erfordere.

Nicht angesprochen wurde in Istanbul die Tatsache, dass kulturelle Vielfalt selbst eine Quelle von Konflikten sein kann. Als „lebendes Museum“ lassen sich kulturelle Überlieferungen nicht einmal in den gefestigten Demokratien des Westens still stellen – Stichwort Regionalisierung. Der konfliktfreie Raum, den die Unesco für die Kultur erhofft, als Voraussetzung für Erhaltung und Weitergabe gelebter Kulturtraditionen, bleibt eine ebenso notwendige wie ferne Hoffnung.

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