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Sprachmächtig. Der 2005 im Alter von 47 Jahren verstorbene Thomas Kling.

© Imago

Gesamtwerk des Sprachekstatikers Thomas Kling: Die feurigen Säulen der Sprache

Wirkmächtigster Dichter seiner Generation: Die großartige Ausgabe der gesammelten Werke von Thomas Kling.

Auf dem Cover seines letzten Buches, des 2005 erschienenen Bandes „Auswertung der Flugdaten“, hat sich der große Sprachekstatiker Thomas Kling als antiker Säulenheiliger inszeniert. Ein Foto zeigt ihn, wie er, leicht verunsichert und sich mit dem linken Arm an Efeublättern festklammernd, nach einem sicheren Stand auf dem Säulenpostament sucht.

Der von einer Krebserkrankung bereits geschwächte Dichter signalisierte hier ein letztes Mal seine große Passion. Und diese Passion wies von Beginn an in die Richtung einer „Vorzeitbelebung“, in die Frühgeschichte der Dichtung, wo er in uralten Zauberliedern, Hexensprüchen und Knotenschriften die magischen Kräfte der Poesie aufzuspüren hoffte.

Sprachturbulenzen im grellen Licht

Da war ein Dichter am Werk, der mit ungeheurer Energie nicht nur die Sprachturbulenzen der unmittelbaren Gegenwart in ein grelles Licht tauchte, sondern auch die Konfigurationen antiker Mythologie zum Glühen brachte. „Rotglut der bilder, aufschmelzungen. / und alles – alles / ins fließen gebracht: / in meiner bildschmiede / schildschmiede. / seit sonnenaufgang bin ich – Vulcan“: So lauten die letzten, sehr programmatischen Verse in „Auswertung der Flugdaten“.

Klings Auftritte waren von Beginn an veritable „Sprech-Stunden“: Die multimedial stimulierte „Sprachinstallation“ und die „Sprachkörperbetrachtung“ sollten endlich das „Genuschel“ herkömmlicher Dichterlesungen hinwegfegen.

Die Technik der vokabulären „Aufschmelzung“ und furiosen Zergliederung des Sprachmaterials, wie er sie seit seinem offiziellen Debütband „erprobung herzstärkender mittel“ im Jahr 1986 vorführte, hat schon zu seinen Lebzeiten einige Epigonen auf den Plan gerufen, eine poetische Stimme von ähnlicher Strahlkraft. Als der Dichter am 1. April 2005 im Alter von 47 Jahren seiner Krebserkrankung erlag, brach auch eine ganze poetische Traditionslinie ab.

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Wie schwer dieser Verlust für die Lyrik der Gegenwart wiegt, erhellt nun die vierbändige Werkausgabe, die nicht nur sämtliche Einzelveröffentlichungen des Dichters versammelt, sondern auch gewaltige Schätze aus dem Nachlass ans Licht hebt. Als Herausgeber dieser Werkausgabe fungieren neben Marcel Beyer, der mit Kling eng befreundet war, die Literaturwissenschaftler Peer Trilcke, Frieder von Ammon und Gabriele Wix, die seit vielen Jahren erhellende Forschungsarbeiten zu Klings Werk vorlegen.

Der Säulenheilige Simeon spielt eine große Rolle

Aus der historischen Distanz zeigt sich, wie sehr sich Thomas Kling von seinen Anfängen im Umfeld der Wiener Avantgardisten um Reinhard Priessnitz und Friederike Mayröcker in seinem späten Werk wegbewegte – hin zur akribischen Erkundung und Neuaufladung antiker Konstellationen. In Klings spracharchäologischem Ansatz spielte die Gestalt des syrischen Styliten Symeon, der als erster Säulensteher im 5. Jahrhundert bekannt wurde, eine große Rolle.

Bereits in seiner ersten poetologischen Standortbestimmung „Itinerar“ (1997) identifiziert sich Kling mit der Gestalt des Styliten, wie ihn einst der Dadaist Hugo Ball in seiner Schrift „Byzantinisches Christentum“ porträtiert hatte. In seinem faszinierenden zweiteiligen Gedichtzyklus „Manhattan Mundraum“, an dem er von 1996 bis 2002 arbeitete, fragt Kling dann: „besteht die stadt aus / säulenstehern?“ Gegen Ende des ersten „Manhattan“-Gedichts evoziert er schließlich das „stylitnhotel“, in dem sich einst der im Exil verzweifelnde Dramatiker Ernst Toller erhängte. Die Stadtlandschaft Manhattans gewinnt in ihrer dynamischen Architektur und dem Gewirr der Stimmen ebenso Präsenz wie die bei Kling zentrale Erfahrung der Metropole als „Mundraum“, „Textus“ oder „Zeugenschrift“.

Stimmengewirr der Ich-Könige

Von seinen ersten Auftritten als „junger Wilder“ bis zu den antiken „Vorzeitbelebungen“ auf Augenhöhe mit den Geistesaristokraten Stefan George und Rudolf Borchardt hat Kling einen weiten Weg zurückgelegt. Nach seinen wirkmächtigen Auftritten in den Wiener Margarethensälen 1983 begann er mit wachsendem Erfolg, Sprach-Räume mit seiner Stimme zu gestalten und die Wörter seines Gedichts mit allen nur denkbaren Formen der Deklamation bis zum Siedepunkt zu erhitzen.

In drei Gedichten über das Düsseldorfer Künstlerlokal „Ratinger Hof“ fing er das Stimmengewirr der Ich-Könige und die „schrille Klausur“ der von Stroboskopgewittern durchblitzten Nächte ein. Ganz anders die Gedichte im Spätwerk. Da steht die „Antikenverwaltung“ des elitären Klassizisten Rudolf Borchardt im Mittelpunkt, dessen „Bakchischen Epiphanien“ Kling einen weit ausgreifenden Essay widmet.

35 unveröffentliche Gedichte des Frühwerks

In der Werkausgabe werden nun die bislang 1500 Seiten fassenden Publikationen des Dichters um 850 Seiten erweitert – mit Fundstücken aus dem Frühwerk und noch nicht veröffentlichten Teilen des Nachlasses, zum Beispiel die 35 Gedichte des Frühwerks „Der Zustand vor dem Untergang“.

Kling hatte den Band 1977 noch als Schüler publiziert und wollte ihn später auf keinen Fall wieder der Öffentlichkeit zumuten. Zu den intensivsten Stücken aus dem Nachlass gehören die bewegenden Gedichte aus der letzten Krankheitsphase, wenn Kling etwa in „Sanftes Knochenhaus“ den schwindenden eigenen Atem in Verse übersetzt oder er 2005 eine „Kleine Pavane, für Ute“ entwirft.

Er veröffentlicht schon mit 17

Dieser lyrische Schreittanz, die Pavane, ist im Krankenbett entstanden und Klings Ehefrau, der Künstlerin Ute Langanky, gewidmet, mit der er einige Künstlerbücher gemeinsam erarbeitet hat. Die überraschendsten Entdeckungen lassen sich indes im vierten Band machen, der auf fast 900 Seiten den Essayisten Kling vorstellt. Ein großer Teil dieser Arbeiten war bislang nur in Archiven von Regionalzeitungen, Katalogen oder kaum bekannten Periodika zugänglich, etwa im „Mitteilungsblatt“ der Düsseldorfer Sektion des Deutschen Alpenvereins. Dort veröffentlichte der 17-jährige Kling 1974 seinen ersten „Essay“, in dem er „unsere erste eifelfahrt“ bilanziert. Für die bereits damals von ihm konsequent verwendete Kleinschreibung rechtfertigt er sich mit dem Hinweis auf den „westdeutschen sakrallyriker stefan george“.

Es ist ästhetisch konsequent, dass auch diese Protokolle von Bergwanderungen in die Essaysammlung aufgenommen wurden. Denn Kling war nicht nur ein leidenschaftlicher Bergwanderer, sondern hat auch die Erkundung der Alpen in vielen Werkphasen zum Thema gemacht. So in „stromernde alpmschrift“, dem Schlusszyklus im Band „nacht.sicht.gerät“ (1993), oder in der 23-teiligen „Landschafts-Photographie“ unter dem Titel „TIROLTYROL“ in „brennstabm“.

[Thomas Kling: Werke. Hrsg. von Marcel Beyer, mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. Vier Bände. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 2690 Seiten, 148 €.]

Band vier präsentiert den Dichter zudem in einer weiteren bislang unbekannten Rolle: als ketzerischen Film- und Literaturkritiker. Für die „Rheinische Post“ verfasste er 1984/85 kenntnisreiche Filmkritiken, im Düsseldorfer Magazin „Zwiebelzwerg“ brillierte er mit Rezensionen des Grass-Romans „Der Butt“ oder Klaus Kinskis autobiografischer Schmonzette „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“.

Wechselhaftes Verhältnis zu Durs Grünbein

Auch das wechselhafte Verhältnis zu seinem Kollegen Durs Grünbein ist hier festgehalten. 1988 lobt er in einem Rundfunkbeitrag die „frappant geschulte Beobachtungsgabe“ seines Kollegen, 2005 formuliert er dann die wenig schmeichelhafte Sottise über die „Sandalenfilme aus den Grünbein-Studios“.

Er wolle „der sprache feuer unterm hintern machen“, hat Kling im Jahr 2000 in dem Gedicht „Prometheus“ notiert. Eine ähnliche Arbeitsplatzbeschreibung hatte er bereits im vorletzten Gedicht des Bandes „brennstabm“ geliefert. Dort heißt es in einer treffenden Miniatur: „senti! / das nach wie vor heftigste: / den sprachn das sentimentale / abknöpfn als wär da nicht schon so gut / wi alles im eimer, bausch, der im / hohn bogn in ein op-behältnis / fliegt; // ein nachtzug draußn, der“ – und hier reißt die coole Confessio ab.

Thomas Kling ist auch 15 Jahre nach seinem Tod der „nach wie vor heftigste“ und sprachmächtigste Dichter seiner Generation.

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