zum Hauptinhalt

Kultur: Gesang und Geheul

Altaf Tyrewalas großes Bombay-Poem.

Von Gregor Dotzauer

Aus der Entfernung betrachtet, richtet Ironie noch etwas aus. Indien erscheint dann beispielsweise als „Subkontinent in Geschenkverpackung / Für den ersten Nasdaq-Bieter“. Vielleicht hilft aus mittlerer Distanz auch eine Dosis Zynismus, indem man Bombay einen „verkehrsverstopften Störfall an der Küste“ nennt. Mit dem 1977 geborenen Altaf Tyrewala aber zwischen dem Müll und den Exkrementen seiner heimischen 18-Millionen-Metropole zu stehen und zu entdecken, dass man im Gerangel um ein Taxi gerade über einen arm- und beinlosen Bettler gestolpert ist, der mit erigiertem Glied herumliegt, „verlangt nach eigener, unerhörter Sprache“.

Das einzige Maß, mit dem man den Elendszuckungen und dem fauligen Gestank dieser Stadt, ihren Nomaden und nouveaux riches gerecht wird, ist deshalb die Maßlosigkeit. Und so strudelt Altaf Tyrewalas Poem „Das Ministerium der verletzten Gefühle“ über 50 kataraktartige Seiten hinweg Lebenswut und Todestrunkenheit auf eine Weise in sich hinein, die ebenso sehr fiebriger Gesang ist wie zorniges Geheul. Die Polyphonie dieses um keine Obszönität, keine Blasphemie und keine Verwünschung verlegenen Texts steht immer kurz vor der Kakophonie – und einem großen Schweigen.

Tyrewalas Buch ist das Nebenprodukt eines gescheiterten Romans. Was ihm, anders als in seinem viel gerühmten Debüt „Kein Gott in Sicht“ (2006), das die auseinanderstrebenden Kräfte Bombays auf knapp 200 Seiten in einem Chor von Prosastimmen noch einmal bündelte, als Erzähler nicht mehr gelingen wollte, ist als poetisches Unternehmen ein Triumph – wenn man es denn gattungsmäßig festlegen will. Tyrewala selbst verleitet mit einer Anspielung dazu, eine Parallele zu T. S. Eliots legendärem „Waste Land“ (1922) herzustellen, und der Klappentext greift sie dankbar auf.

„Das Ministerium der verletzten Gefühle“ jedoch lebt von weitaus weniger Philosophemen und intertextuellen Bezügen – und einer weitaus größeren Unmittelbarkeit des Zugriffs, bis in politische Aktualitäten hinein. Das nimmt dem Ergebnis nichts von seiner mitreißenden Konzentriertheit, rückt es aber eher in die Nähe einer rhythmisch zerrupften Prosa. Beatrice Faßbender hat sie – unter Verzicht auf einige unübersetzbare Wortspiele – zuverlässig ins Deutsche gebracht und überdies ein hilfreiches Glossar angefügt. „In deinem Rückspiegel weicht der Dschungel zurück / Vor deiner Frontscheibe zieht die Stadt herauf / Apple-Reklame säumt den Highway / Dir stockt der Atem bei der Einsicht / Dass innerhalb dieser surrenden scheißenden überfüllten / Polis der Beharrlichkeit / Alles an Himmel und Hölle liegt, was du ertragen kannst.“ Gregor Dotzauer

Altaf Tyrewala:

Das Ministerium der verletzten Gefühle.

Gedicht.

Englisch/Deutsch. Übersetzt von Beatrice Faßbender. Berenberg Verlag, Berlin 2013. 100 Seiten, 19 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false