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Kultur: Geschichte im Blindflug

Autobiograf des Abendlandes. Zum Tod des französischen Literatur–Nobelpreisträgers Claude Simon

Geschichte, hat Claude Simon gesagt, ist ein mit großen Schritten durcheiltes Höllenlokal. Ihr Personal sind Krieger, festgewurzelte Fleischberge, die mit langsamen Gesten säbelnd zu Schlägen ausholen. Zurück bleibt eine heillos zerrissene, nächtliche Welt, die dem nächsten Waffengang entgegendämmert.

Den Fortschrittsmodellen und Finalvisionen setzte Simon Naturschauspiele der Macht entgegen: ein Geschehen ohne Ziel und Gesetz, in dem sich rohe Gewalt Bahn bricht. Darum reimt sich in seiner Erzählsprache Krieg auf Sexualität. Grimmiger noch als Thomas Pynchon erzählte er Geschichte als Zusammenbruch der Zivilisation und Widerruf des Subjekts. Sein Erzählen: ein Werk des Abrisses.

Simon wurde am 10. Oktober 1913 als Sohn eines französischen Berufsoffiziers in Madagaskar geboren. Die Eltern starben früh; er wuchs bei Verwandten in Perpignan auf. Zunächst zog es ihn zur Malerei. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg, kam während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft und begann erst nach 1945 zu schreiben. Waren seine ersten Romane von diesen Kriegserfahrungen geprägt, dehnte sich seine Gedächtnislandschaft bald bis in die griechische Vorgeschichte zu Herakles und hinter die Zeit in den utopischen Raum ewigen Friedens aus. Die reale Geschichte ist der Trümmerhaufen, der nach Cäsars Sieg über Pompeius in der Schlacht bei Pharsalos, nach den Revolutionskriegen des 18., den Kolonialkriegen des 19. und den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts übrig bleibt. Fakten wie Krieg und Frieden werden nackt gezeigt, vor dem Zugriff erzählerischer Einbildungskraft. Ihre Einkleidung, die ordnende Modellierung zur Geschichte ist das Werk des Romans.

Im zentralen vierten Kapitel seiner „Georgica“ (1981, deutsch 1992) stürzt Simon den von der marxistischen Theorie gefeierten Retter der historischen Vernunft: den Revolutionär. Eine erzählerisch hinreißende, als Kritik vernichtende Auseinandersetzung des Kombattanten der Linken in Spanien mit den Erinnerungen des Spanienkämpfers George Orwell. Bei Simon verwandelt sich der Revolutionär in einen Kampfautomaten, der seine Arbeit bei gelöschten Gehirnfunktionen verrichtet und sich vor „den Feinden der Revolution in Gestalt ihrer Anhänger“ mit knapper Not in Sicherheit bringt.

Im Motto seines Bürgerkriegsromans „Der Palast“ (1962) bestimmt er den Begriff der Revolution physikalisch: als Kreisgeschehen. Revolutionen unterbrechen die Katastrophe nicht, sie setzen sie fort. Simon dramatisiert sie zur Apokalypse. Zu den Schlüsselbildern seiner großen Schlachtenfresken gehört das Nachtbild apokalyptischer Reiter, die in den Krieg aufbrechen und einem fliehenden bäuerlichen Treck begegnen. Es ist der Augenblick, in dem Zivilisation und Barbarei einander berühren. Der alte Kontinent sinkt zurück in einen Zustand vor der Scheidung von Licht und Finsternis. Dieser zivilisatorische Zusammenbruch hat einen „ironischen Teilnehmer“: die Natur. Mal sind es Sträucher und Bäume, mal zankende Vögel, die das Gemetzel parodieren. Die Natur hat das letzte Wort.

Unter den zeitgenössischen Geschichtserzählern war Simon der große Abendländer. Den Bund zwischen Altertum und Moderne besiegelte sein erzählerischer Zusammenschluss mit Vergil. Aber nicht der Verfasser der Aeneis undder heroisch verklärte Gründungsmythos Roms interessierten ihn, sondern die „Georgica“, Vergils Lehrgedicht vom Landbau. In sehnsüchtigen Sendbriefen werden genaue Anweisungen über Aussaaten und Ernten, den Bau der Schlossterrasse und das Epitaph für die im Kindbett gestorbene Herrin erteilt. Der Briefschreiber ist das „Koloss“, ein heimwehkranker französischer Provinzadliger, ein Nomade der Geschichte. Seine mythologische Stellvertreterfigur ist Orion, der von Poussin gemalte tagreisende Fremdling. Diese Figur des blinden Himmelsjägers, der in irdischer Finsternis dem jenseitigen Licht zustrebt, gehört unter wechselndem Namen zum Personal aller Romane. In „Die Straße in Flandern“ (1960) über Frankreichs Niederlage 1940 heißt sie Georges. Für die Dauer einer schlaflosen Nacht nach dem Krieg wird Georges’ Gedächtnis Schauplatz der Erzählung. Georges, ein Nachfahre des Proustschen Erzählers, ist nicht mehr Herr der Geschichte.

Schon Prousts Erzählen, das zur Lieblingslektüre des jungen Simon gehörte, war auf den flüchtigen Schreibaugenblick und ein Erzählbewusstsein bezogen, in dem die Ablösung vom Selbst als unwiederbringlicher Verlust erlebt wird. Der Erzähler kann die objektive Welt nicht mehr vermitteln, er verliert jeden Repräsentationsanspruch. Simon vollzog den nächsten Schritt: Federführend wird nun ein traumatisiertes Gedächtnis. Der chronologischen Erinnerung setzt Simon die Montage entgegen, in der die Zeiten sich ineinander schieben. Geschichte wird zur subjektiven Konstruktion, zum affektgeladenen Augenblick: ein stillgelegtes Raumbild.

Simons Roman ist ein Assoziationswerk. Entlang sprunghafter Analogieketten entwickeln sich Erzählachsen, die die Gegenwart des Schreibens mit ferner Erinnerung zusammenschließen. Beispielhaft für dieses Verfahren ist der Roman „Die Akazie“ (1989), neben „Georgica“ und „Die Straßen in Flandern“ eines der Meisterwerke Simons. Im Zentrum des gewaltigen Triptychons werden Kriegsereignisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs verspiegelt, Hinterhalt, Verwundung, Tod, Gefangenschaft. Die Seitentafeln zeigen einen Toten und einen Lebenden, den gefallenen Vater und den aus der Kriegsgefangenschaft geflohenen Sohn, dessen Widerstand im Schreibakt Gestalt annimmt. Die Kriegsschicksale verbinden sich zu einer Passionsgeschichte, die in die Auferstehung des Künstlers mündet.

Zuletzt hat Claude Simon, der 1985 mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt wurde, das Prinzip der De- und Rekonstruktion nochmals gesteigert. 1997 erschienen seine Memoiren „Jardin des Plantes“: Eine Gedächtnisdämmerung ist zu besichtigen. Tastend setzt sie ein, entfaltet sich rund um Namen, Zahlen, Daten, Adressen: eine Sammel- und Genauigkeitsbürokratie, die den Werkroman Simons in die Nähe faktischer Geschichtsschreibung zu rücken scheint. Umso größer ist der Triumph des Erzählarchitekten, der seine Materialien zunächst nach dem Vorbild des Pariser Botanischen Gartens ordnet und ihnen dann eine schachbrettförmige Sinnordnung überstülpt. Solche Erzählkunst ist universalistisch. Aus großer Distanz überblickt sie das Schauspiel der Erde, doch dem modernen Erzähler fehlt der Standort. Er ähnelt dem Vogel, der durch korrigierende Bewegungen der Flügel seine Lage stabilisiert. „Ein Schriftsteller schreitet auf Flugsand“, hat er an anderer Stelle geschrieben.

Unter den französischen Nachkriegsschriftstellern war Simon eine singuläre Gestalt. Seine Bedeutung für die Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts ist vergleichbar nur mit der von Proust oder James Joyce. Zuletzt lebte er als Winzer in Perpignan und inkognito in Paris in der Nachbarschaft der Jardins des plantes. Am vergangenen Mittwoch ist Claude Simon im Alter von 91 Jahren gestorben. „Ich bin ein alter Mann, und mein Leben war reich“, erklärte er Jahre vor seinem Tod.

Sibylle Cramer

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