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Wegen der revisionistischen Politik der kroatischen Regierung boykottierte die Jüdische Gemeinde 2016 die Feier der Befreiung des einstigen KZs Jasenovac.

© Antonio Bat/dpa

Geschichtsrevisionismus auf dem Balkan: Wir Opfer, ihr Übeltäter

Gerade ist in Kroatien die Regierungskoalition zerbrochen. Überdies tobt ein Streit um die Geschichte, die von Nationalisten umgedeutet wird. In Serbien gibt es ähnliche Bestrebungen.

Seit Monaten tobt in Kroatien ein Kulturkampf. „Entfernt den Revisionismus aus der kroatischen Politik!“, fordern 183 Intellektuelle, Journalisten und Kulturschaffende aus Kroatien und weiteren 34 Ländern in einem offenen Brief. Ihr Protest zielt vor allem auf Kultusminister Zlatko Hasanbegović, dem Verharmlosung des kroatischen Ustascha-Regimes vorgeworfen wird. Dessen faschistischer Anführer Ante Pavelić ließ während des Zweiten Weltkriegs massenhaft Serben und Juden ermorden oder vertreiben. Allein im Konzentrationslager Jasenovac kamen mehr als 80 000 Menschen ums Leben.

Hasanbegović gehört einer von der nationalkonservativen HDZ geführten Koalition an, die seit Jahresbeginn von einer Krise zur nächsten stolpert und die letzte Woche zerbrach. Laut Opposition verharmlost der Historiker den Massenmord im KZ Jasenovac sowie die Untaten der bosnisch-muslimischen SS-Division „Handschar“. In den Neunzigern habe er zudem Artikel für eine rechtsextreme Zeitschrift geschrieben und sich als Mitglied einer paramilitärischen Vereinigung mit der Ustascha-Kappe ablichten lassen.

Franjo Tudjman relativierte die Verbrechen der Ustascha

Seit 1990 der ehemalige Partisanengeneral und Historiker Franjo Tudjman an die Staatsspitze Kroatiens trat, ist die Revision der Geschichte im Gang. Der autoritär regierende Präsident lobte in seinem Buch „Irrwege der Geschichtswirklichkeit“ das von deutschen und italienischen Truppen besetzte faschistische Großkroatien als „unabhängigen Staat“, beschuldigte „die Juden“ für die Verfolgung der Serben und rechnete die Zahl der in den KZs Ermordeten nach unten. Damit begann eine von der Regierung tolerierte oder sogar geförderte Welle der Verharmlosung und Leugnung, die sich auch in der Populärkultur, in Schulbüchern, Museen und Dokumentarfilmen niederschlägt. Die Jüdische Gemeinde hat deshalb die Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Jasenovac in diesem Jahr boykottiert.

Schon zu jugoslawischen Zeiten bemühten sich die Gegner des sozialistischen Regimes, darunter besonders Tudjman und die kroatischen Emigranten, die Verbrechen von Ustascha und Partisanen gleichzusetzen. Die ideologischen Erzfeinde hatten sich während des Zweiten Weltkrieges mit allen Mitteln bekämpft, wobei das Pavelić-Regime auf der Seite Hitler-Deutschlands stand, während Tito den Widerstand kommandierte.

Bei Kriegsende ließ der siegreiche kroatische Kommunist die fliehenden „Quislinge“ im Kärntener Bleiburg massenhaft ermorden. Weil die Verbrechen nach 1945 auch für die Forschung tabu blieben, entwickelte sich das Andenken an den „kroatischen Holocaust“ zur geschichtspolitischen Zeitbombe. Kürzlich bezeichnete Kultusminister Hasanbegović den Antifaschismus offen als „Floskel“ und die Niederlage der Ustascha 1945 als „nationale Tragödie“.

Nach Titos Tod wurde der einst verherrlichte Partisanenkampf entzaubert

Der Kampf um die richtige Deutung der Geschichte in allen Nachfolgestaaten spiegelt die schwierige Identitätssuche nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens. Seit der Vielvölkerstaat in den achtziger Jahren in die Krise kam, suchen die Protagonisten der unabhängigen Nationalstaaten nach historischen Bezugspunkten ihrer Politik. Hatte der „Volksbefreiungskampf“ lange als Gründungsmythos gedient, um die kommunistische Alleinherrschaft in Jugoslawien zu legitimieren, machten sich Titos Gegner nach seinem Tod 1980 daran, den Partisanenkampf zu entzaubern und seinen wichtigsten Helden vom Sockel zu stoßen.

Ähnlich wie der spanische Diktator Franco, der in den dreißiger Jahren einen Bürgerkrieg gewann, propagierte Tudjman nach seinem Machtantritt dann aber die „nationale Versöhnung“. Im Zweiten Weltkrieg gefallene Kroaten beider Seiten sollten in einem symbolischen Akt gemeinsam in Jasenovac begraben werden. Dazu kam es nicht, wegen massiver Proteste. Während Tudjman sich als Abbild des von vielen verehrten Staatsgründers Tito inszenieren ließ, wurden tausende Partisanendenkmäler geschleift, Straßen und Plätze umbenannt.

Kroatien ist ideologisch in "Patrioten" und "Liberale" gespalten

Wegen der revisionistischen Politik der kroatischen Regierung boykottierte die Jüdische Gemeinde 2016 die Feier der Befreiung des einstigen KZs Jasenovac.
Wegen der revisionistischen Politik der kroatischen Regierung boykottierte die Jüdische Gemeinde 2016 die Feier der Befreiung des einstigen KZs Jasenovac.

© Antonio Bat/dpa

Der Revisionismus gilt als Versuch, die vernichtende Niederlage der Ustascha im Zweiten Weltkrieg zu relativieren, von ihrem moralischen Versagen abzulenken und den aktuellen, auch von der katholischen Kirche unterstützten Nationalkonservativismus zu rechtfertigen. Längst sind die Zeitzeugen in einem Alter, in dem sie ihre Version der historischen Wahrheit nicht mehr lange vertreten können. Aber auch die jüngeren Generationen sind durch ideologische Gräben zwischen „Patrioten“ und „Liberalen“ gespalten. Rechtes und linkes Lager sind etwa gleich stark.

Gegen Revisionismus und Nationalismus wenden sich außer ehemaligen Kommunisten und Partisanen auch Sozialdemokraten, Linksliberale und Bürgerrechtler. Sie sehen die Umdeutung der Vergangenheit als Mittel, die Demokratie auszuhebeln und das EU-Mitglied Kroatien nach dem Muster Ungarns zu „orbanisieren“. Tatsächlich hat die Regierung Intendanten, Programmchefs und Rundfunkredakteure ausgetauscht, unbequeme Sendungen abgesetzt und die finanzielle Unterstützung unabhängiger Medien beschnitten. Die Opposition vermutet auch, dass die HDZ mittels Geschichtspolitik davon ablenken will, dass sie gegen akute Probleme wie die hohe Arbeitslosigkeit nichts zu unternehmen weiß.

Letztes Jahr rehabilitierte ein Belgrader Gericht einen Tschetnik-Führer

Auch im Nachbarland Serbien dient die Geschichte als zentrale Sinnstifterin. Hier wollen nationalorientierte Politiker, Historiker und Publizisten die monarchistischen Tschetniks zu Patrioten und Widerstandshelden des Zweiten Weltkriegs stilisieren. Die Freischärler kämpften anfangs tatsächlich gegen die Wehrmacht, führten jedoch später in Bosnien brutale „ethnische Säuberungen“ durch, um ein homogenes Großserbien zu schaffen. Schließlich schlossen sie Bündnisse mit den Besatzern und verfolgten die Partisanen.

Im vergangenen Jahr hat ein Belgrader Gericht den Tschetnik-Führer Draža Mihailović rehabilitiert, der 1946 von den Kommunisten als Kollaborateur und Kriegsverbrecher hingerichtet worden war. Auch General Milan Nedić, der im Auftrag der Wehrmacht das besetzte Serbien verwaltete, soll posthum juristisch entlastet werden. Deutsche Truppen gingen besonders unbarmherzig mit „Sühnemaßnahmen“ gegen Partisanen und die Zivilbevölkerung vor. Nun werden wie in Kroatien die dunklen Seiten der nationalen Vergangenheit – Kollaboration und Völkermord – aus dem kollektiven Gedächtnis einfach herausgefiltert.

Wer die politische Verfolgung der Regimegegner Titos mit dem ethnischen Vernichtungskrieg von Ustascha und Tschetniks gleichsetzt, will meist nicht nur den Antifaschismus und Sozialismus diskreditieren, sondern auch Jugoslawien als multinationales Gemeinwesen. Im Gegensatz zu den Kommunisten, die „Brüderlichkeit und Einheit“ predigten, gilt der Rechten die ethnisch-kulturelle Einheitlichkeit als Grundlage der Nation sowie als Mantra für politische Stabilität. Bis heute spukt in den Nachfolgestaaten immer noch ein völkischer Nationalismus herum, der Minderheiten das Leben schwer macht und die Aufarbeitung der Vergangenheit behindert.

Bis heute gedeihen Revisionismus und historische Mythen

Denn bei all dem ist die Deutung der Geschichte zugleich eine Metapher dafür, wer die Schuld an den Verbrechen im jugoslawischen Zerfallskrieg trägt. Mindestens 3,5 Millionen Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit sind während der Neunziger im Zuge „ethnischer Säuberungen“ vertrieben worden. Die Verantwortlichen diffamierten sich damals wechselseitig als „Ustascha“ oder „Tschetniks“. Serbische und kroatische paramilitärische Gruppen, die für schlimmste Verbrechen verantwortlich sind, stellten sich aber auch selbst durch Programme, Uniformen und Abzeichen in die Weltkriegstradition. Bis heute gedeihen Revisionismus und historische Mythen in einer Kultur der Leugnung und Ausgrenzung, die die eigene Nation ausschließlich als Opfer, die andere hingegen kollektiv als Übeltäter ansieht. Hier wie dort feiern Veteranen Kriegsverbrecher als Helden.

Marie-Janine Calic ist Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU München. Im Herbst erscheint ihr Buch „Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region“ im Beck-Verlag.

Marie-Janine Calic

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