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Geschichtsstunde: Generäle und andere Gespenster

Preußen, Nazis, Nordkorea: Eine Geschichtsstunde auf dem Zietenplatz in Mitte.

Der Imbiss heißt „Döner Kebap am Regierungsviertel“. An Tschechiens Botschaft, die – braun verspiegelt – ausschaut wie ein Baby des seligen Palasts der Republik, weht das Transparent „Böhmen liegt am Meer“. Das Jugendzentrum auf dem Terrain des Propagandaministeriums heißt Ikarus. Gegenüber, vor Haus Nr. 77, eine Plastiktafel mit blauen Lettern: Hier stand das Reichskanzler-(vormals: Radziwill-)Palais, in dem als erster Kanzler Bismarck wirkte. Heute erstrecken sich dort laut Infotext „hochwertige Plattenbauten“. Und hier stand der Erweiterungsbau der Reichskanzlei, behauptet vor Nobelplatte Nr. 78 eine weitere verblichene Tafel der Serie „Geschichtsmeile Wilhelmstraße“.

Die nächste, am Eck, ist kaum noch lesbar. Es geht wohl um die verschwundene Reichskanzlei, die 1938/39 über 441 Meter lang an der Voßstraße errichtet wurde. In der Plastikscheibe schwimmt Buchstabensuppe; als habe ein Beben die aus der Zeit gefallenen Kulissen samt Tafeln und Texten durchgerüttelt. Hier also befand sich das Zentrum totaler Staatsgewalt. Hinterm Block, die Voßstraße runter, rechts in die Hermann-Göring-Straße, die heute Gertrud-Kolmar-Straße heißt. Vor dem Rasen informiert eine weitere Tafel über den „Führerbunker“, mit Farbgrafik, inspiriert durch den Verein „Berliner Unterwelten“. Adolf lebt hier nicht mehr.

441 Meter ostwärts zurück. Das also war mal der Wilhelmplatz.

Wir gehen über die Wilhelm- zur Mohrenstraße. Hier, am Zietenplatz, stehen die sechs Bronze-Generäle. Beim Festakt am 24. September waren vier von ihnen enthüllt worden; wie Gespenster standen sie da auf ihren Granitpodesten. Aus dem einen Laken wehte eine Fahne, aus dem anderen ragte ein Marschallstab. Zwei Skulpturen von Johann Gottfried Schadow, die bereits 2003 und 2005 wiederaufgestellt wurden, erwarteten die Enthüllung ihrer Kollegen: Leopold von Anhalt-Dessau, der sich laut Tafeltext um „Manneszucht und die Verbesserung der Krieger zu Fuß“ verdient gemacht hat, sowie Hans-Joachim von Zieten, der kleine aufmüpfige Husarengeneral. Leo und Hajo sind seinerzeit im Bett gestorben, ebenso Freiherr von Seydlitz-Kurzbach, eins der Gespenster.

Die anderen – Graf von Schwerin, Hans Carl von Winterfeldt, Jacob F. Edward Keith –fielen im Kampf. Der Brite hatte eine Abenteuerkarriere hinter sich. Zwei waren brave Familienväter, andere Schürzenjäger, gleichwohl frömmer als ihr aufgeklärter Friedrich II., dessen siebenjährigen Weltkrieg sie erfolgreich voranbrachten. Die Sechs vom Zietenplatz posieren neben dem U-Bahn-Abgang samt Rosenbeet, vor dem Arbeits- und Sozialministerium, der Vertretung Thüringens, Tschechiens und der Geister-Botschaft Nordkoreas, in der sich hinter einer Garde von Pappeln keine Gardine rührt.

Dass sich an diesem Ort preußisch-deutsche Bruchstellen und Kontinuitäten mehr als sonst wo in Berlin ausmachen lassen, ist der Ödnis kaum anzumerken. Von 1769 bis 1828 waren die Generäle zunächst an dem der Mohrenstraße vorgelagerten Wilhelm-Markt aufgestellt worden: als erstes öffentliches Ensemble nichtmonarchischer Helden. Mitte des 19. Jahrhunderts, zur aristokratischen Blütezeit des Stadtteils, ersetzte man die von Schinkel bei der Umgestaltung des Platzes an Winkeln und Längsseiten platzierten, teils antikisierenden Marmor-Originale durch Abgüsse, historisierend modifiziert. Als das Rechteck 1936 Aufmarschplan wurde, mussten sie in Reih und Glied an den Rand – und 1944/45 zur Sicherheit ins Depot. Als Ost-Berlin sie 1969 zurückwollte, lehnte der West-Senat noch wegen „Verherrlichung des Krieges“ ab.

Nun hat die Schadow-Gesellschaft das einzigartige Sextett preußischer Skulpturenkunst mittels Spendensammlung heimgeholt. Die Festschrift der Gesellschaft würdigt das Ensemble als „Selbstbild des preußischen Staates im 18./19. Jahrhundert“ und wünscht sich angesichts solcher Armeeführer „die Befreiung des preußischen Militärbegriffs vom Negativ-Tabu“ – waren die sechs doch über jeden Kadavergehorsam erhaben. Dabei verblüfft, dass trotz aller Dokumentationsakribie in der Festschrift kein Raum bleibt, die politische Aufladung des Umfelds zur NS-Zeit zu konkretisieren.

Zum Wilhelmplatz, den man sich wegen der teilweisen Überbauung heute nur noch schwer vorstellen kann, gehörte außer der Reichskanzlei auch Berlins erstes Luxushotel, der Kaiserhof. Heute steht hier Nordkoreas Betonburg, vor 1933 logierten hier die NSDAP sowie Goebbels’ expandierende Behörde und der Reichsbahn-Komplex. Die sechs Generäle haben damit wenig zu tun. Ihren Krieg mit Hitlers Vernichtungszügen gleichzusetzen oder mit unserem siebenjährigen Afghanistan-Krieg, wäre töricht; vergleichen freilich könnte interessant sein. Stattdessen produzieren beim Festakt für die Rückkehrer kostümierte Infanterie-Darsteller und „Lange Kerls“ aus Potsdam zu fiepsiger Marschmusik (und einem modernen „Schadow-Signal“) preußenseligen Mummenschanz. Wachtmeister Dimpflmoser lässt grüßen.

„Etwas zackiger, meine Herren“, meckert eine Passantin. Die Traditionalisten sind fast unter sich, Beamte aus den umliegenden Ministerien gucken zur Pause vorbei. Der Bezirksbürgermeister umeiert den Drahtseilakt: Einerseits bauen wir das neue Berlin, sagt er, andererseits wollen wir das historische herstellen. Manchmal führe das zu erbittertem Streit. Er freut sich über das zivilgesellschaftliche Engagement der Schadow-Gesellschaft. Es müsse auch diese Orte geben: nicht um dem „Historismus nachzujagen“, sondern um Kunst zu würdigen, die vor langer Zeit geschaffen wurde.

Rund um den verschwundenen Wilhelmplatz treffen Konzepte dreier Berlin-Erfinder-Fraktionen aufeinander, die selten konstruktiv miteinander reden. Die urbanen Mahnmalisierer von der Stiftung Topographie des Terrors haben mit den blassen Infoscheiben der „Geschichtsmeile Wilhelmstraße“ die Aufmotzung des Kiezes zum Horror-Wallfahrtsort womöglich verhindert; im kollektiven Bewusstsein kommen ihre Lektionen kaum an. Der Verein „Berliner Unterwelten“ wiederum hat das Führerbunker-Thema unter Aspekten des touristischen Thrills aufbereitet. Und dieNostalgiker setzen ihrerseits auf die ästhetische Durchsetzungskraft ihrer punktuellen Rekonstruktion.

Beim Retro-Ringelpiez der Generäle hebt Johannes Grützke, der stellvertretende Vorsitzende der Schadow-Gesellschaft, dann gottlob das Reflexionsniveau. Der leidenschaftliche Redner verweist als Einziger auf den imaginären Palast des Führers, erinnert an den Plan, dort ein Denkmal des einsamen Hitler-Attentäters Georg Elser zu errichten. „Sie, die früher auch schon da waren, sind nun wieder da. Früher waren sie Generäle, jetzt sind sie Skulpturen. Elser sieht sie an. Mein Elser! Dort drüben, auf der anderen Seite der Wilhelmstraße, wo mal kurze Zeit eine Reichskanzlei gestanden hat, da wird er stehen und sie anschauen, der wahrste Gegner des Krieges. Er hält seine Bombe bereit. Er zögert noch. Diese Situation wird diesen Platz bestimmen …“

Wer von den Generälen rüberblickt in die Voßstraße, vorbei an der Straße Gertrud Kolmars, die im März 1943, als die Arbeit am Führerbunker begann, nach Auschwitz deportiert wurde, der sieht backstage über das leere Wertheim-Areal bis zum Leipziger Platz und auf ein Megagerüst mit einer Fassadenattrappe. Der Kulissenzauber dauert an. „Sie leben mit uns und durch uns, da wir sie ansehen und anrufen“, grüßt Grützke, der Künstler, die replatzierten Generäle. „Die Skulpturen vom Wilhelmplatz, sie leben hoch!“ Eine Frau im roten Jackett piepst: „Hoch“. Sonst ruft keiner was.

Für einen Moment rücken Erinnerung, Gedenken, Vergangenheit, Gegenwart und Projektion ineinander. Keine gute Stube ohne Orkus: Es gibt nur ein Berlin.

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