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Kultur: Geschlossene Gesellschaft

Schwer zu sagen, wann an diesem Abend die Wirklichkeit aufhört und das Theater beginnt. Das Publikum muß sich am Eingang zur Justizvollzugsanstalt Tegel (Tor 2) einer peniblen Sicherheitskontrolle unterziehen.

Schwer zu sagen, wann an diesem Abend die Wirklichkeit aufhört und das Theater beginnt. Das Publikum muß sich am Eingang zur Justizvollzugsanstalt Tegel (Tor 2) einer peniblen Sicherheitskontrolle unterziehen. Einlaß wird nur angemeldeten Personen gewährt, die angewiesen werden, sämtliche Wertsachen in Schließfächern zu deponieren. "Sie nehmen nur ihren Ausweis mit", sagt der Beamte immer wieder. Man sieht den Besuchern die Verwirrung an, sich von persönlichen Gegenständen zu trennen, ohne die sie sich nackt und schutzlos fühlen. Unweigerlich läßt man einen Teil seiner Persönlichkeit zurück an den riesigen Stahltoren des größten deutschen Männergefängnisses im Norden von Berlin. Es ist eine Reise in die Nicht-Öffentlichkeit.

Das "Theater der Welt" möchte Grenzen überwinden. Daß eine Produktion wie "Tegel Alexanderplatz" des Gefangenentheaters "Aufbruch" von der Jury ebenfalls berücksichtigt wurde, lenkt die Aufmerksamkeit indessen auf Grenzen, die sich quer durch die Gesellschaft ziehen. Und es sind elementare Grenzen, die vielleicht tatsächlich nur von etwas wie dem Theater durchbrochen werden können. Weil es ein Fenster öffnet in diesem endlosen Ozean aus Zeit, in dem die Persönlichkeit jedes Häftlings zu ertrinken droht. "Überlaßt uns nicht unserem Schicksal", bittet einer gegen Ende des "Auslieferung" genannten Szenenreigens, der sich aus Motiven von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" zusammensetzt. Er meint es bitter ernst.

Die Gefangenen spielen nämlich vor allem sich selbst und spiegeln in der Romanfigur des aus der Haft entlassenen Franz Biberkopf ihr eigenes trostloses Leben. Die Figur wird in Form eines gelben Shirts symbolisch an den nächsten übergeben, der aus dem Chor herausfällt, wie jemand, der die Anstalt nach Jahren in die Freiheit verlassen darf, aber sämtliche Freunde zurückläßt. Dieser Chor entfaltet eine ungeheure Kraft, indem er den Entlassenen wie eine schwarze Wolke begleitet, ihn ausraubt, ermutigt, verhöhnt oder erneut zum Verbrechen verführt. Die anderen sind sein Schicksal. Sie arbeiten solange an seiner Seele, bis er jegliche Skrupel verloren hat. Die humorvolle Aufrichtigkeit, mit der diese harten Burschen sich über sich selbst amüsieren, verleiht ihnen eine Würde, die des Mitgefühls nicht bedarf. Wie man ein besserer Mensch wird, wissen sie auch.

Noch einmal heute, 17.40 Uhr

KAI MÜLLER

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