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Bottomley

© Thilo Rückeis

Gesine Bottomley: Harfensolo aus der Stille

Sie ist ein Lexikon auf Beinen, aber das reicht ihr nicht. Gesine Bottomleys Lebenswerk: "die größte Bibliothek der Welt". Jetzt wurde ihr eine Komposition gewidmet.

Die Stimme des japanischen Komponisten war ihr, seit sie sich vor langer Zeit mit ihm angefreundet hatte, längst vertraut geworden. Doch dann taucht Toshio Hosokawa in diesem Frühjahr plötzlich vor ihrem Schreibtisch auf und stellt ihr eine gänzlich unerhörte Frage: Ob er, fragt er, ihr ein Stück widmen dürfe?

Ob er …?

Gesine Bottomley, Leiterin der Bibliothek des Wissenschaftskollegs zu Berlin seit immerhin 28 Jahren, bekannt für ihre unerschrockene Art, wirkte damals, das sagen ihre Mitarbeiter noch heute, wie unter Schock. War ein größeres Symbol der Wertschätzung überhaupt möglich?

Acht Minuten Harfe, solo, für die Musikgeschichte. Und für sie für immer. Hosokawa ist weltbekannt und war gerade einer der Fellows am Kolleg im Grunewald. Das Stück war in der kleinen Komponistenremise neben der Bibliothek entstanden, ein paar Meter nur von ihrem eigenen Arbeitsplatz entfernt.

Bibliothekarinnen leben gemeinhin ein Leben im Stillen, ihre Bewegungen gedämpft von den vielen Büchern. Man stellt sie sich in vieler Hinsicht etwas kurzsichtig vor. Doch das Echo, das Gesine Bottomley hinterlässt, wenn sie jetzt im September nach 28 Jahren ihre Bibliothek verlässt, ist gewaltig. Ohne sie, das halten internationale Danksagungen in fächerübergreifenden Arbeiten schriftlich fest, „wäre es nicht möglich geworden“, „hätte diese Arbeit kein Gesicht bekommen“, „sie machte das Wunder möglich“.

Das Objekt dieses Lobes sitzt mit angezogenen Knien in einem Sessel in Friedenau und blättert in dem Fotoalbum, das die Kollegen ihr zum Abschied geschenkt haben. Zu sehen ist vor allem die Jahrzehnte überdauernde Vorliebe der Wissenschaft für Strick, und gleich ist klar, dass die Faszination dieses Lebens natürlich in der Schönheit des Geistes liegt.

1981, erzählt sie, zu einer Zeit, als es noch mühsam war, gute Wissenschaftler nach Berlin zu locken und das Wort „Elite“ einen skeptischen Reflex auslöste, wurde das Wissenschaftskolleg mit einem ehrgeizigen Auftrag gegründet: Für ein ganzes akademisches Jahr sollten ausgezeichnete, internationale Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sich ganz auf ein Forschungsvorhaben konzentrieren dürfen. Ein paradiesischer Ort in dem Sinne, als allein die Bewegung ihres Geistes den Verlauf dieses Jahres bestimmen soll. Und Gesine Bottomley sollte an der Pforte sitzen zu diesem Paradies, sie sollte die Bibliothek aufbauen, das Herzstück, den Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Arbeit. Wie aber würde eine Bibliothek aussehen müssen, die jedes Jahr auf höchstem Niveau ganz neue Fachgebiete bedienen soll?

Sie müsste der Welt da draußen eine ebenso große Welt drinnen entgegensetzen. Im Prinzip müsste sie für jeden Handschriften-, Musik- oder Bildwunsch gerüstet sein, ohne zu wissen, ob der Wunsch aus der Fledermausforschung, der Neurobiologie oder der Kunstgeschichte kommen würde. Unmöglich der Versuch, alle Bücher physisch vorrätig zu halten. Und so konzipierte Gesine Bottomley im ummauerten Berlin eine Bibliothek ohne Beispiel, die viele seitdem als die größte, und „die erste virtuelle Bibliothek der Welt“ bezeichnen.

Sie begann, nicht die Bücher selbst, sondern die Möglichkeit ihrer Beschaffung zu sammeln. Sie knüpfte Beziehungen zur Staatsbibliothek, zu den Universitätsbibliotheken, zu kleineren Spezialsammlungen, zur Max-Planck-Gesellschaft. Sie pflegte internationale Netzwerke. Das ermöglichte ihr, enorm gute Ausleihbedingungen und -fristen für ihre Fellows herauszuhandeln. Gartenpartys, Briefe und Einladungen an befreundete Bibliothekare wurden nötig, um ein Klima zu schaffen, in dem am Ende jeder vom Nutzen dieser Einrichtung überzeugt war. Bald brauchte sie Mitarbeiter, auch ein Fahrer wurde eingestellt, der bis heute keine andere Aufgabe verfolgt, als vormittags die Bibliotheken in der Stadt, nachmittags die in Dahlem anzufahren und Bücher hin- und zurückzubringen.

Aber das Leben im Grunewald besteht nicht nur aus Logistik. Das reizvolle sind vor allem die täglichen gemeinsamen Mittagessen. Die sind Pflicht, da stellt man einander die Forschung vor und sich selbst, und wer verhindert ist, muss sich abmelden. Geistig abwesende Professoren sind beim Essen dagegen erwünscht: Das bedeutet, dass sie sich ganz auf ihre Themen konzentrieren.

Anfangs hatte man noch Hemmungen, sagt Bottomley. Die Angestellten, auch die der Bibliothek, aßen getrennt von den „wertvollen Fellows“, aus Sorge, sie zu stören. Aber das löste sich rasch auf, man musste ja wissen, woran den Gästen gelegen war. Vielleicht fiel ihnen eine kleine Privat- oder Spezialsammlung zu ihrem Thema ein. Bald wurde es derart familiär, dass Toshio Hosokawa im Pyjama nachts in die Bibliothek hinuntertappte, um sich noch einmal in die Schöpfungsgeschichte einzulesen.

Natürlich war Gesine Bottomley fasziniert vom Appeal der Intelligenz. Ihr Leben stand im Dienst der Erkenntnis, 28 Jahre lang hat sie sich täglich in die Themen der Wissenschaftler hineingedacht. Da schwirrten die Ideen, die Gespräche, meist der Männer, unvermeidlich. Da war das aufreizende Denken eines Ivan Illich, sein anregender Protest gegen die Zumutungen der Medizinindustrie, gegen die Verschulung, für den mündigen Bürger. Illich wurde ihr ein guter Freund, bis er 2002 starb. Da war der Komponist Josef Tal, der wie viele Musiker ganz frei über seine Kunst sprach und sie mitnahm in die Welt der neuen Musik. Die bildete ihr fortan ein sinnliches Gegengewicht zu der strukturierten Welt der Datenbanken.

Gesine Bottomley, vor 65 Jahren in Potsdam geboren, die nach dem Abitur als Au-pair nach England ging, wo sie „den Herrn Bottomley kennenlernte, viel zu früh“, zog mit diesem nach Kanada, studierte Philosophie. Und weil sie glaubte, dass das ja noch kein Beruf sei, setzte sie noch einen „Master Of Library and Information Science“ drauf.

„Ich fühle mich manchmal wie Google“, sagt sie. Wie ein Konversationslexikon auf Beinen. Aber das reicht nicht. Nach ihrer Pensionierung möchte sie selbst ein Thema bis auf den Grund hin erforschen. Auf wenigstens einem Gebiet zur Expertin werden. Eine Idee hat sie schon. Recherchieren kann sie ja. Außerdem wird sie sich auf den Kreuzfahrtschiffen Queen Mary und der Queen Victoria für die Bibliothek bewerben, wo sie kreuzfahrenden Engländern die Welt der Internetrecherche erklären will.

Natürlich hatte sie Hosokawa erzählt, wie schwer es ihr fallen würde, ihr Lebenswerk gehen zu lassen. Dass sie die täglichen Gespräche mit den Fellows vermissen werde. Man müsse jetzt nur noch einen Namen finden, sagt der. Ob sie eine Lieblingsblume habe? „Schneeglöckchen.“ Das passte nicht in die Jahreszeit. Chrysantheme? Gefiel ihr nicht. Sie haben das Stück dann einfach „Gesine“ genannt. Es ist zur Markierung ihres neuen Lebensabschnitts am vergangenen Freitag um 10 Uhr 55 in München im ARD- Musikwettbewerb uraufgeführt worden, ein Pflichtstück für alle Harfenisten. Im Publikum saß Gesine, die echte.

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