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Kultur: Gesucht: Ein Zeuge unseres Jahrhunderts

Heute Abend diskutiert das "Literarische Quartett" die Wiederentdeckung des Weimarer Kulturklatsch-Autors Karl August Böttiger.Seine "Begegnungen und Gespräche" sind nicht eben große Literatur - aber Anlaß zu kritischer Lektüre und aktuellen BezügenVON WOLF JOBST SIEDLEREs gibt Bücher, deren eigentliche Bedeutung nicht in ihnen selber, sondern in den Gedanken liegt, zu denen sie Anlaß geben.

Heute Abend diskutiert das "Literarische Quartett" die Wiederentdeckung des Weimarer Kulturklatsch-Autors Karl August Böttiger.Seine "Begegnungen und Gespräche" sind nicht eben große Literatur - aber Anlaß zu kritischer Lektüre und aktuellen BezügenVON WOLF JOBST SIEDLEREs gibt Bücher, deren eigentliche Bedeutung nicht in ihnen selber, sondern in den Gedanken liegt, zu denen sie Anlaß geben.Natürlich sind Karl August Böttigers "Literarische Zustände und Zeitgenossen", diese - mitunter indiskreten - Berichte mit ihren Schilderungen von Abenden mit Goethe, Schiller, Herder oder Wieland zuweilen amüsant und mitunter auch zeitgeschichtlich aufschlußreich.Aber eine wirklich bedeutende Chronik der großen Epoche zwischen 1790 und 1830 ist das vom Sohn Böttigers aus den Aufzeichnungen des Vaters erstellte Zeitgemälde denn doch nicht. Karl August Böttiger, ein belesener und auch gebildeter Mitarbeiter vieler Zeitungen und Zeitschriften (der eigentliche Herausgeber von Wielands "Neuem Teutschen Merkur"), der seinen Lebensunterhalt als Gymnasialdirektor verdiente, ist kein wirklich souveräner Kopf mit eigenem Urteil.Schiller ist ihm "der Götze des Tages", über Kant notiert er Belangloses, und Fichte, sein Mitschüler aus Schulpforta, kommt nur in Nebensächlichkeiten vor.Er weiß schon, wer Kant ist, und die "Wissenschaftslehre" Fichtes ist ihm vertraut.Aber seinem verspätetem Aufklärertum ist die "neumodische" idealistische Philosophie im Grunde fremd, und sie wird es auch dann bleiben, als Schelling der Modephilosoph der zwanziger und dreißiger Jahre ist. Böttigers Berichte, die der Berliner Aufbau-Verlag jetzt mit dem Untertitel "Begegnungen und Gespräche im Klassischen Weimar" neu publiziert hat, beziehen das Interesse, das ihnen seit anderthalb Jahrhunderten entgegengebracht wird, im wesentlichen daraus, daß es die Großen der deutschen Literatur sind, von denen er hier erzählt.Über Goethes "Mätresse" Christiane Vulpius zerreißt er sich den Mund, an Schiller bemängelt er, daß allen seinen Schriften das Fehlen eines ordentlichen Bildlungsganges anzumerken sei, und eigentlich fühlt er sich bei Herder und Wieland am wohlsten.Mit beiden teilt er die Sympathie für die französische Revolution, auch als man in Paris 1791 den König enthauptet hat und eine Ernüchterung durch das denkende Deutschland geht.Noch 1794 schmuggelt er in seine Zeitschrift als "Kontrebande" wohlwollende Nachrichten aus Paris ein.Goethe nennt die Revolutionsschwärmerei zur selben Zeit in einem Brief an den Freiherrn vom Stein einen "unseligen körperlosen Parteygeist".Aber zwischendurch berichtet er süffisant, der Herzog habe sich mitunter so wenig gewaschen, daß er schon auf Entfernung gerochen, eigentlich gestunken habe, was übrigens wenig zu den Erzählungen anderer Mitglieder der Hofgesellschaft paßt.Er notiert genüßlich, wer mit wem geschlafen hat und wie ein Ehemann seine Frau in flagranti mit ihrem Liebhaber überrascht.Bei allem Spott liest man dergleichen natürlich gern, man soll die Lust am Geschwätzigen nicht geringschätzen.Schließlich lebt auch das "Literarische Quartett" zum guten Teil von solchem Vergnügen. Die Reich-Ranickis, die Karaseks, die Löfflers und deren wechselnde Gäste sind dabei im Grunde zu bedauern; sie müssen sich allzu oft an ihrem eigenen Temperament entzünden.In Weimar stritt man sich immerhin über Goethes Gedichte, Schillers Dramen und Wielands Romane.Reich-Ranicki muß dagegen die sprichwörtlichen Locken auf einer Glatze drehen, denn die meisten der Bücher, die er zum Objekt seiner Gesprächsrunde macht, sind nach einigen Jahren, oft schon nach Monaten in Vergessenheit versunken.Die Bedeutung dieser amüsantesten Literatursendung des deutschen Fernsehens besteht ja darin, daß sie den Zuschauern die Illusion verschafft, in einem lebendigen literarischen Klima zu leben.Das ist durchaus etwas in einer Atmosphäre, in der ein literarisches Ereignis selten geworden ist.Was für ein intellektuelles Vergnügen aber, wenn auf unterhaltsam-temperamentvolle Weise über wirklich bedeutende Novitäten gestritten würde.Wenn wir heute die zwanziger und nicht die neunziger Jahre schrieben - wenn der eigene Scharfsinn sich am "Zauberberg", am "Untertan", am "Mann ohne Eigenschaften", an Kafkas "Prozeß", selbst nur am "Sergeant Grischa" oder an dem "Fall Mauritius" erweisen müßte! Karl August Böttiger hatte große Gegenstände, aber er näherte sich ihnen auf subalterne Weise.Man versteht schon, daß man am Frauenplan seinen Namen besser nicht erwähnte.Dabei ist die Ranküne des Olympiers oft ungerecht.Allerdings sind diese Aufzeichnungen dort am interessantesten, wo Böttiger nicht über Literatur und Philosophie redet.Im Januar 1799 notiert er ein abendliches Gespräch zwischen Herder und Wieland im Salon Johannes Daniel Falks, der selber ein nicht sonderlich bedeutender Schriftsteller war, aber als Legationsrat im Weimar der Wende vom 18.zum 19.Jahrhundert eine gewisse Rolle spielte.Wieland behauptet, daß die Liebe zu einer häßlichen Frau die dauerhafteste sei.So sei eine seiner Freundinnen in ihrer Jugend unwiderstehlich anziehend gewesen, obwohl sie so häßlich gewesen war, "daß er sich erst an ihrem Anblick gewöhnen mußte".Herder stimmt zu, sagt aber, daß kluge Weiber im Grunde auch nie die Schönheit an den Männern lieben."Aber die Männer", fällt ihm Wieland ins Wort, "suchen doch zuerst die Schönheit einer Frau, oder vielmehr an den Frauen.Denn an einer genügts nie." - "Lieben Sie nur eine Blume?", fragt hierauf Herder."Dieß war eine sehr männliche Frage", erwidert Demoiselle Schröder, die gefeierte Schauspielerin. Das sind Gespräche, aus denen die gesellschaftliche Atmosphäre in der kleinen Residenzstadt hervorgeht, die damals etwa siebentausend Einwohner zählte.Hat Goethe - natürlich immer im Stil seiner Zeit vor allen Rechtschreibreformen "Göthe" geschrieben - wirklich fast jeden Morgen in ihrer beider Jugendzeit zwischen 1775 und 1781 aus seinem Gartenhaus Billets wie das folgende an den Herzog gerichtet? "Da sitz ich hier noch immer in der Scheiserei, in der abscheulichen Scheiserei.Willst Du, Lieber" - wie Göthe angeblich gewöhnlich den Herzog genannt habe - "bei mir diesen Mittag essen, so habe ich nichts vorzusetzen, als ein todgeschlagenes und der Jagd entrissenes Rebhuhn.Das übrige mußt Du mitbringen.- Wolfgang." Das Buch ist in Teilen wirklich kurzweilig, mitunter aber, wenn Böttiger von Unbekannten geschwätzige Belanglosigkeiten mitteilt, ziemlich ermüdend.Man wundert sich, wie wenig Belangvolles ein Mann mitzuteilen hat, von dem die Herausgeber glaubhaft versichern, daß er einer der bedeutendsten Altertumskenner seiner Zeit gewesen sei.Übrigens soll, wie bei so vielen Büchern des Aufbau-Verlages, ausdrücklich festgehalten sein, daß die Edition der beiden Herausgeber Klaus Gerlach und René Sternke vorzüglich ist - das Vorwort, der editorische Nachbericht, das Register der "Anonyma und Periodika", das 70 Seiten lange Personen- und Werkregister und die 90 Seiten umfassenden Anmerkungen. Warum aber ist aus unserer Gegenwart nichts vergleichbar Aufschlußreiches überliefert? Deutschland hatte ja zumindest in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auch eine "Genieperiode", von Hauptmann über Hofmannsthal, George und Rilke bis hin zu den großen Romanciers und dem Ausbruch an lyrischem Genie, daß sich von Rudolf Borchardt, Lasker-Schüler, Brecht und Benn gegenseitig das Terrain fast streitig machten.Aber es gibt nur sehr wenige Chronisten dieser Epoche.Natürlich der unübertroffene Tagebuchschreiber Graf Kessler, die Notizen der Frau v.Spitzemberg und wohl auch Bethmann-Hollwegs Adlatus Riezler. Doch kaum ein Bericht existiert über Abende im Münchner Haus Thomas Manns, niemand schrieb auf, wie Heinrich Mann an der Seite Fritzi Massarys Berlin unsicher machte.Katia Mann wischte allerdings wenige Jahre vor ihrem Tode in ihrem Haus in Kilchberg überm Zürichsee Fragen nach den vielen berühmten Actricen im Umkreis ihres Schwagers vom Tisch."Papperlapp", sagte sie kurzerhand, "mit denen zeigte sich Heinrich nur Unter den Linden oder am Kurfürstendamm.Eigentlich war er stets mit unappetitlichen, grünlich aussehenden, Damen zusammen, mit denen wir ihn nie einladen konnten".Golo, der dabei war, wand sich vor Peinlichkeit.- "Mama, so kannst du das nicht sagen." - "Golo, erinnerst du dich noch, wie dein Vater und ich und du als Junge in die Halle des Baur du Lac kamen? Eine geradezu scheussliche Dame sass dort und sah schon so aus, als ob sie rieche.Sieh Katia, sagte dein Vater, eine rechte Heinrichsbraut." Auch solche Geschichten möchte man hören oder lesen.Wenig Verläßliches ist aus dem Wien der Jahrhundertwende festgehalten, das im Umkreis Gustav Mahlers eine Spätblüte erlebte.Berta Zuckerkandl zwar zwar eine große Dame des Fin de siécle, aber sie ist eben eine unzuverlässige Kolumnistin im Stil eines durchschnittlichen Feuilletons.Dabei gab es Berichtenswertes in dieser Zeit genug, wenn man nur daran denkt, wer von Rathenau bis zu Richard Strauß und General Seeckt zu Gerhart Hauptmanns "Wiesenstein" pilgerte. Doch gibt es in diesem Jahrhundert nicht einmal einen Karl August Böttiger, und bei dieser Erwägung blickt man milder auf seine Berichte, so unzureichend sie sein mögen.Liegt das daran, daß Deutschland eben kein Weimar mehr hat, in dem sich der Geist einer ganzen Epoche an einem Ort zusammenzog? Die einen lebten in Wien oder in Prag, seit der Jahrhundertwende spielte München mit Thomas Mann, Wedekind, Strauss und Pfitzner eine immer größere Rolle, und mit der naturalistischen Revolte schob sich die neue Kaiserstadt Berlin in den Vordergrund.Dabei haben jüdische Künstler, Intellektuelle und Magnaten natürlich eine Rolle gespielt, von den Mendelssohns über die Fürstenbergs bis zu dem lebenshungrigen schlesischen Provinzler Alfred Kerr, der sich bald in die Gesellschaft der Hauptstadt hinein- und heraufschrieb. So wäre es Zeit, daß ein Mann wie zum Beispiel Klaus Harpprecht, der mit seiner tausendseitigen Thomas Mann-Biographie im Grunde bereits ein Modell dafür geliefert hat, sich daran machte, die zweite klassische Periode der deutschen Literatur von 1880 bis 1930 auch in ihrem Klatsch und Tratsch festzuhalten, bevor sie ganz hinter dem Horizont verschwunden ist. Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen.Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar.Aufbau Verlag, Berlin.601 Seiten.69,90 DM.

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