zum Hauptinhalt

Kultur: Giftige Äpfel

Das Exempel „Dogville“: Stuttgart hat ein neues Staatsschauspiel – und gleich den ersten Skandal

Kräftige Buhs und aufgeregte Gegenstimmen. Eine neue Buhwelle, noch heftiger, Abgänge, Türenknallen, die Stimmung kocht, jetzt passiert es, jetzt: Das Publikum unterbricht die Aufführung. Doch plötzlich Stille, Konzentration, die Schauspieler auf der Bühne haben gesiegt.

Was ist passiert? In „Dogville“, dem Stück nach dem gleichnamigen Kinoskandalon von Lars von Trier, wird Grace, die schöne Fremde, nach allerlei Torturen auch noch als sexuelles Freiwild benutzt. Den alten Dorfarzt befriedigt sie, man sieht nur seinen Rücken und ihre Bewegungen, dann wirft sich der alte Blinde auf sie, danach reißt Lastkraftwagenfahrer Ben seine Hose runter und schmeißt sich auf sie. Als die nächste Hose runtergeht, bricht ein Buhsturm los. Warum? Woher kommt das? Die Folterbilder von Abu Ghraib müsste doch jeder gesehen haben. Warum kann man auf dem Theater nicht ertragen, was täglich im Fernsehen, in den Zeitungen zu sehen ist?

Das ist, am Beginn einer neuen Spielzeit und auch einer neuen Schauspielintendanz, ein starkes Argument für die Macht des Theaters und für Regisseur Volker Lösch, der vor Jahresfrist mit seinem Bürgerchor bei den Dresdner „Webern“ den größten Theateraufruhr der letzten Jahre provozierte. Ihm gelingt es tatsächlich, das für seine Aufgeschlossenheit und Anhänglichkeit berühmte Stuttgarter Publikum bis aufs Blut zu reizen. Die eigentlich geplante Provokation, dass der echte Exmanager Thomas S. Zell, natürlich von Mercedes, vornehm ergraut, in „Dogville“ statt Mafiaboss sich selbst spielt, die war dann gar keine. Im Gegenteil, die Mercedes-Manager-Rederei wirkte beinahe langweilig, so sattsam bekannt ist die Argumentation. Nein, Autos bauen ist natürlich kein Verbrechen, auch nicht kriegstaugliche Autos an Krieg führende Staaten zu verkaufen, nein, Arbeiter werden nicht ausgebeutet, und und und. Alles richtig und auch wieder nicht.

So spielt Volker Lösch mit den Wirklichkeitsebenen, und der Eröffnungsreigen der neuen Intendanz von Hasko Weber nach zwölf Jahren Friedrich Schirmer hatte seinen wild bewegten Höhepunkt. Denn Volker Lösch kann nicht nur provozieren, er legte mit dem neuen Ensemble eine packende Inszenierung hin, die sich völlig vom Film unterscheidet, obwohl dieser die Theatersituation simuliert. Auf einer kleinen schrägen Plattform ein Idyll, das kleine Häuflein von Dogville, zwölf Menschen beim Picknick. Sie singen, auch schwäbisch, sie erzählen altbekannte Witze und essen wie immer Apfelringe mit Puderzucker und Zimt und könnten von der schwäbischen Alb sein. Sie singen, stampfen vereint Äpfel und sprechen im Chor, nicht zu oft, aber oft genug, und die rotgelben Äpfel werden zum Leitmotiv. Versuchung und Sündenfall.

Bald muss Grace, gespielt von Dorothea Arnold, allein stampfen, mit nackten Füssen, Äpfel prasseln fuderweise vom Himmel und Grace muss sie einsammeln, eine Sisyphosarbeit. Bilder und Bedeutungen – Graces freiwillig beschrittener Weg in Dogville führt von weiblicher Unterwerfung, christlicher Demut und Opferbereitschaft über Märtyrertum bis tief in Hiobs Leiden.

Warum ist Grace überhaupt in Dogville? Grace wird verfolgt, es wurde auf sie geschossen, sie sucht Zuflucht im Dörfchen hoch in den Bergen. Sie kommt Tom (Benjamin Grüter), dem selbst ernannten Wahrheitsfinder und Menschenverbesserer, gerade recht, um die selbstgenügsamen, von der Welt abgeschnittenen Dogviller zum Annehmen zu erziehen. Alle behaupten: Wir brauchen nichts! Doch schnell werden Graces Gaben, ihre Arbeitsleistung, ihr Mitgefühl wie ihre freudig praktizierte Demut unersetzlich. Das Programm Geben und Nehmen ist ein Erfolg, Tom triumphiert. Mit dem ersten Aushang des Sheriffs, auf dem Grace gesucht wird, kippt die Situation. Grace muss mehr arbeiten, wird ausgebeutet, stampft die Äpfel bis zur Erschöpfung.

Es geht um Scheinheiligkeit, Bigotterie, die fragile Balance zwischen Annehmen und Ausnutzen, die Lust an Macht und Unterwerfung, die Bereitschaft zu Folter und Gewaltausübung und vieles mehr. Mehr kann eine Aufführung nicht erreichen als die Gleichzeitigkeit von behaupteter und tatsächlicher Realität.

Eine Faust auf grünem Feld ist das neue Stuttgarter Logo – und tags zuvor startete Hasko Weber mit Goethes „Faust“, zeitgemäß in einer leeren Fabrikhalle. Kein einsam forschender Faust, nein, vervielfältigt, geklont, entindividualisiert. Drei Fäuste sprachen „Habe nun, ach“, erst nach dem Trank aus der Phiole blieb ein Faust übrig. Das fing gut an, obwohl wegen kurzfristiger Umbesetzung des Faust eine Woche vor der Premiere nicht ganz auf der Höhe. Ein intensiver, junger Faust (Sebastian Röhrle), das kindlich beherzte Gretchen (Mandy Rudski), zwei aalglatte Mafia-Mephistos, eine mächtige Putzfrau als weiblicher Erdgeist und eine schön liederliche Marthe ließen die Möglichkeiten des neuen Ensembles nicht nur ahnen. Dass aus dem frischen Wind am zweiten Premierentag gleich ein Orkan wurde, erinnerte an selige Peymann-Zeiten und Schirmers mutigen Beginn mit Kusejs „Herzog Gotland“. Hasko Weber und Volker Lösch knüpfen an Stuttgarter Traditionen an.

Ulrike Kahle

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false